Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
Vom Netzwerk:
schreibe das Manuskript für den Drucker ab«, erklärte ich.
    Tristans Blick flog über die ersten Zeilen, hielt inne, huschte zurück und begann von vorn.
    Im Licht des flackernden Kaminfeuers sah ich, wie seine Gesichtszüge erstarrten – und es lag nicht daran, dass sein Bein ihm Schmerzen bereitete.
    Leise begann Tristan vorzulesen:
    »›… Doch im Inferno von Hass und Gewalt, streitbaren Glaubensdisputationen und den auflodernden Scheiterhaufen der Inquisition halte ich unbeirrbar fest an Jeschua, meinem Rabbi, meinem König, meinem Bruder.
    Wahrlich, so sprach Jeschua, was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, habt ihr mir getan.
    Und so wurde Jeschua zusammen mit seinen jüdischen Brüdern und Schwestern eintausendfünfhundert Jahre lang misshandelt, bedroht, gequält, verhöhnt, verfolgt, beraubt, gedemütigt, ermordet und vertrieben – und von den Christen wieder und wieder ans römische Kreuz geschlagen.
    Liebt eure Feinde, so predigte Jeschua, und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder Gottes werdet.
    Lasst uns gemeinsam – Juden und Christen! – die Nägel aus seinem Fleisch ziehen und ihn endlich vom Kreuz nehmen …‹«
    Blass ließ Tristan drei Seiten weiter das Manuskript sinken. Das blanke Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben.
    Und die Angst.
    Menandros half mir in die schwankende Gondel, breitete einen warmen Pelz über meinen Bauch und meine Beine und entzündete die Laterne. Dann machte er das Seil los und steuerte die Gondel in die Mitte des Canalazzo.
    Es war so nebelig, dass ich trotz des Lichtscheins der Laterne die Palazzi zu beiden Seiten des Kanals nicht erkennen konnte. Nebelschleier waberten vor uns über das tiefschwarze Wasser. Nur das leise Plätschern der Wellen gegen die Bootsstege und das Geräusch aneinander schlagender Gondeln durchbrach die Stille. Kein fremder Ruderschlag, kein Lachen, kein Gesang drang durch den dichten Nebel.
    Misteriosa Venezia – geheimnisvolles Venedig!
    Als wir am Rio di San Moisè vorbeigeglitten waren, hielt sich Menandros nah am linken Ufer – nicht aus Angst vor einer Kollision mit einer anderen Gondel, sondern weil der Hafen abends bei Nebel besonders gefährlich war.
    Meine Hand unter dem warmen Pelz zerknitterte die kurze Nachricht, die Leonardo mir gesandt hatte. ›Bitte komm!‹, hatte er geschrieben. ›Ich muss dringend mit dir reden.‹
    Ich konnte mir denken, was er mir zu sagen hatte!
    Dann tauchte der Palazzo Ducale aus den dichten Nebelschwaden auf. Menandros steuerte die Gondel an den Molo heran, legte an einem Bootssteg an, sprang hinauf und half mir an Land. Dann begleitete er mich durch die Porta della Carta in den Hof des Dogenpalastes. »Ich werde auf dich warten!«, versprach er und küsste mich auf die Wange.
    Wenig später hatte ich das Appartamento Ducale erreicht. Ein Diener öffnete mir die Tür zu Leonardos Privatgemächern.
    In eine Decke gewickelt saß er am Kamin. Sein Blick war glanzlos, und wie immer war er bleich wie der Tod. Die nebelige Feuchtigkeit des venezianischen Winters bereitete ihm Schmerzen.
    »Danke, dass du gekommen bist, mein Kind«, murmelte der Doge. »Bitte setz dich! Wir müssen reden.«
    Während ich mich im Sessel gegenüber niederließ, ruhte sein Blick auf meinem Bauch: Ich war im siebten Monat.
    »Celestina …«, begann er mühsam.
    »Was willst du mir sagen, Leonardo? Dass Zaccaria Dolfin im Senat erneut die Vertreibung der Juden aus Venedig gefordert hat? Dass er mich als Judenhure beschimpft hat? Das weiß ich schon von Tristan.«
    »Celestina, es tut mir …«
    »Warum?«, unterbrach ich ihn. Verbittert? Nein, denn ich hatte nichts anderes erwartet als Unverständnis und Hass. Enttäuscht – das war ich! Zutiefst enttäuscht über die christliche Intoleranz. »Zaccaria hat doch Recht: Ich bin die Geliebte eines Juden. Ich bin von ihm schwanger. Wir leben zusammen, obwohl wir nicht verheiratet sind, brechen sämtliche Regeln des vierten Laterankonzils und setzen uns über alle gesellschaftlichen Konventionen hinweg. Ich, die berühmte Humanistin und Verfasserin des Buches Über die Würde und die Erhabenheit des Menschen , das der Papst die ›schönste Blüte der Moral‹ nennt, bin doch offensichtlich das beste Beispiel für den sittlichen Verfall Venedigs. Eine Judenhure!«
    »Ich werde dafür sorgen, dass Zaccaria Dolfin sich bei dir in aller Form entschuldigt«, versprach Leonardo mit beschwichtigend erhobenen Händen.
    »… dass er sich bei mir

Weitere Kostenlose Bücher