Die Evangelistin
entschuldigt? Das kann er gar nicht! Nur ich könnte ihm vergeben. Aber das will ich nicht! Seine selbstherrliche Intoleranz ist unverzeihlich!«
Stöhnend fuhr sich Leonardo mit der Hand über die Stirn.
»Celestina, mein Kind, ich wollte mit dir über das Buch sprechen, das du mit Elija schreibst. Tristan war vor einigen Tagen bei mir und hat mich um Rat gefragt. Das Lesen der ersten Seiten hat ihn in einen furchtbaren Gewissenskonflikt gestürzt. Als Consigliere dei Dieci müsste er das Buch als ketzerisches Werk der Staatsinquisition übergeben, damit es verbrannt wird. Aber als dein Freund, der dich mehr liebt als alles andere auf der Welt, will er dich nicht in Gefahr bringen, von der Inquisition angeklagt zu wer…«
»Elija und ich werden dieses Buch schreiben!«
»Es wird verbrannt werden«, prophezeite er.
»Mögen sie es verbrennen! Dann wissen Elija und ich, weshalb wir es geschrieben haben: weil es notwendig ist! Denn in Europa werden nicht nur Bücher, sondern auch Menschen verbrannt, weil sie einen anderen Glauben haben.«
»Dein Vater war auch so ein intellektueller Freiheitskämpfer!«, erregte er sich – verzweifelt über meinen Eigensinn. »Celestina, sei vernünftig: Das Buch ist häretisch und höchst gefährlich! Elija nimmt Jesus Christus vom Altar und schleppt ihn aus der Kirche fort!«
Ich dachte an den jüdischen Witz, den Elija mir vor Monaten erzählt hatte, als wir gemeinsam das ›Königreich der Himmel‹ betraten: »Ein Jude geht in eine Kirche …«
»Das ist absurd!«, hatte ich gelacht.
»Nein, das ist es nicht!«, hatte er sehr ernst erwidert. »Sieh dir die christlichen Kirchen genau an: In jeder Kirche hängt ein Jude am Kreuz! Also: Ein Jude geht in eine Kirche, um zu beten. Es ist Abend – bitte beachte den endzeitlichen Aspekt dieses Gleichnisses! Der Jude steht vor dem Kreuz und betet mit dem Tallit um die Schultern das Schma Israel. Da kommt der christliche Priester und spricht ihn an. ›Es tut mir Leid‹, sagt er, ›aber der Abendgottesdienst beginnt gleich. Juden sind dabei nicht erwünscht. Bitte geht jetzt!‹ Da nimmt der Jude das Kreuz vom Altar, trägt es fort und sagt: ›Komm, Jeschua, mein Bruder, es ist Zeit: Wir müssen gehen.‹«
Wie hätte ich damals ahnen können, dass Elija das Gleichnis ernst gemeint hatte! Denn wie jener Jude wollte er Jeschua aus der Kirche in die Synagoge zurücktragen.
Und was ließ er den Christen? Ein leeres Kreuz!
»Ich war entsetzt, als Tristan mir erzählte, was Elija geschrieben hatte: ›Die ethischen Gebote des Rabbi Jeschua sind einer der kostbarsten Schätze des Judentums.‹ Um Himmels willen!«, rief Leonardo händeringend aus. »Elija und du, ihr seid beide berühmte und hoch geachtete Gelehrte – die Humanisten werden Daniel Bomberg die Seiten eures Buches aus der Druckerpresse reißen! Innerhalb eines Jahres wird es in Italien, Deutschland, Frankreich, Spanien und England gedruckt und gelesen werden. Dass ihr beide exkommuniziert seid, macht euch zu Märtyrern … zu Helden! Die humanistischen Gelehrten werden dem Papst die ›heilig gesprochenen Irrtümer der Kirche‹ vor die Füße werfen – so nannte Elija doch die christlichen Dogmen! Es wird zu einem neuen Schisma kommen! Celestina, ich flehe dich an: Ihr dürft dieses Buch niemals vollenden!
Das verlorene Paradies ist das häretischste Buch, das jemals geschrieben wurde. Und das gefährlichste! Mit apokalyptischem Donnergetöse wird die christliche Weltordnung einstürzen!«
· E LIJA ·
K APITEL 16
Wie ein Schiff aus Stein tauchte die Insel Giudecca vor mir aus dem dichten blauen Nebel auf. Es war schon fast dunkel. Hoffentlich kam ich nicht zu spät!
Seit Stunden freute ich mich auf das Schabbatessen. Aron und Marietta hatten zugesagt, nach dem Gottesdienst zum Abendessen in die Ca’ Tron zu kommen – mein Bruder wollte wegen Angelos entschiedenem Nein zu seiner Hochzeit mit Marietta mit mir reden, bevor er am 25. Kislew, dem ersten Tag von Chanukka, in Venedig eintraf.
Der Erzbischof hatte Aron und Marietta eigentlich an Weihnachten in San Marco trauen wollen. Und nun? Mein Bruder, der sich monatelang verzweifelt bemüht hatte, weder Aron Ibn Daud, der Jude, noch Fernando de Santa Fé, der Christ, zu sein, sondern einfach ein Mensch, der nach all den Leiden ein Anrecht auf Glück zu haben glaubte – nun war er zutiefst unglücklich. Mit seinem Naziratsgelübde hatte er sich eindeutig zum Judentum bekannt. Er hatte sich zwischen
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