Die Evangelistin
Hals stecken.
Jakob wandte das Gesicht ab, damit ich das verräterische Funkeln in seinen Augen nicht sah. Das Glück seines einzigen Sohnes lag ihm so sehr am Herzen! Yehiel liebte Esther – aber sie war die Nichte eines irrgläubigen Gesetzesbrechers.
Mit einem gemurmelten »Schalom, Jakob!« wandte ich mich ab und verließ den Gebetssaal.
Als ich leise die Tür hinter mir schloss, hörte ich ihn schluchzen. Woran litt er? Dass er eben gerade seinen besten Freund fortgeschickt hatte? Oder dass er, der so gern gerecht sein wollte, mir gegenüber ungerecht sein musste?
Ich stieg die Treppen hinab und trat hinaus in die Kälte. Durch den dichten Nebel irrte ich zurück zu meiner Gondel an der Fondamenta di San Giacomo, entzündete die Laterne, machte das Seil los und ruderte hinaus in die Nacht.
Nach wenigen Ruderschlägen auf dem Canale della Giudecca trat das Ufer hinter mir zurück. Das Licht meiner Laterne reichte nicht weit – der Nebel war undurchdringlich. Eine große Stille umgab mich, als ich über den Kanal ruderte. Nur das Knarzen des Ruders und das Plätschern der Wellen am Bug meiner Gondel waren zu hören. Es war, als wäre ich ganz allein auf der Welt!
Ich ruderte zum Rio di San Vio hinüber, um den Canal Grande zu erreichen. Durch den Hafen wollte ich auf keinen Fall fahren. Es war zu gefährlich!
Kraftvoll tauchte ich mein Ruder in die Wellen und glitt lautlos über den Kanal.
War da nicht das Geräusch eines Ruders gewesen? Ein geflüstertes »Está aquí«?
Ich hielt das Ruder fest und lauschte.
Stille.
Dann ein Plätschern! Tropfen, die auf das Wasser fielen!
Sofort ließ ich den Riemen los und huschte zur Laterne am Bug der Gondel, um die Kerze zu löschen.
»Maldito Judío!«
Ein spanischer Fluch: Verdammter Jude!
War das nicht Fray Santángels Stimme?
Stolpernd hastete ich durch die Finsternis zurück zum Ruder, um ihm und seinen Häschern zu entkommen. Wie viele Männer verfolgten mich? Wie viele Boote? Und aus welcher Richtung kamen sie?
Im dichten Nebel konnte ich nichts erkennen.
Das Knarzen eines Ruders!
Von Westen! Sie wollten mich den Canale della Giudecca entlang nach Osten jagen, um mich im Hafen zwischen den ankernden Schiffen in die Enge zu treiben!
Ich ruderte um mein Leben!
Würde es mir gelingen, vor meinen unsichtbaren Verfolgern den Rio di San Vio zu erreichen? In dem schmalen Kanal konnten sie mich nicht überholen und gegen eine Hauswand drängen, ohne dass mir die Möglichkeit zur Flucht blieb! Sie waren dicht hinter mir – schon konnte ich im Nebel den schweren Atem des Gondoliere hören! –, als ich endlich die Einfahrt des Rio erreichte …
… und der Bug meiner Gondel über die Sperrkette schlitterte und hängen blieb.
Sie hatten mir den Fluchtweg abgeschnitten!
Mit aller Kraft riss ich am Riemen und zog die Gondel rückwärts von der Kette weg, um zu wenden.
Dann steuerte ich ans Ufer, ließ mein Boot so laut gegen die Fondamenta delle Zattere krachen, dass meine Verfolger es hören mussten, nahm meinen Tallit und sprang an Land.
»Rápido, que no se vaya! Er darf nicht entkommen!«
Ich huschte durch den Nebel und warf meinen weißen Gebetsmantel in einen schmalen Durchgang zu einer Gasse, die zum Canal Grande führte. Es sollte so aussehen, als hätte ich den Tallit während meiner Flucht verloren.
Atemlos hastete ich zurück zum Kanal und rannte am Ufer entlang nach Westen, bis ich eine festgemachte Gondel fand.
Während das andere Boot nur wenige Schritte entfernt gegen die Fondamenta polterte und zwei oder drei Männer an Land kletterten, um mich durch die Gassen zu verfolgen, glitt ich lautlos auf den Canale della Giudecca hinaus …
… und wäre im dichten Nebel beinahe mit dem zweiten Boot zusammengestoßen!
Fray Santángel!
Er erkannte mich: »Es él! – Das ist er! Ergreift ihn!«
Meine Gondel war leichter als seine mit vier Bewaffneten. Ich riss das Boot herum, bevor einer der Spanier zu mir herüberspringen konnte.
Im dichten Nebel konnte ich entfliehen.
Fray Santángel fluchte gotteslästerlich. »Maldito Judío! Du entkommst mir nicht!«
Kraftvoll legte ich mich ins Ruder und hatte bald den Rio di San Nicolò erreicht, den letzten Kanal vor dem Westufer der Insel. Atemlos betete ich zu Adonai, dass der Rio nicht mit einer Kette gesperrt war.
Er war es nicht!
Mit einem erleichterten »Herr, ich danke Dir!« steuerte ich meine Gondel in den schmalen Kanal, der sich nach nur wenigen Ruderschlägen verzweigte: Ein Rio
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