Die Evangelistin
führte nach Norden, einer nach Osten. Die beiden Gondeln würden sich trennen müssen, um nach mir zu suchen – so hoffte ich!
Kurz entschlossen riss ich das Ruder herum und steuerte in den Rio dell’Angelo Raffaele.
Fray Santángel war dicht hinter mir!
Wie, um Himmels willen, sollte ich ihm entfliehen?
In den Kanälen und den Gassen der Stadt war der Nebel nicht so dicht wie draußen auf der Lagune oder dem Canale della Giudecca. Wenn ich meine Gondel ans Ufer steuerte, würde er mich sehen. Ich konnte ihm nicht entkommen!
Wenn ich überleben wollte, musste ich schneller sein als er!
Und wenn ich die Ca’ Tron jenseits des Canal Grande erreichen wollte, durfte ich die Gondel nicht zurücklassen, um zu Fuß durch die Gassen zu entkommen – denn der Ponte di Rialto war nachts gesperrt.
Adonai, was soll ich tun?
Dann hatte ich die Kreuzung von vier Kanälen erreicht.
Und nun? Nach links, um Tristans Palacio an der Nordschleife des Canal Grande zu erreichen? Nach rechts, um zur Ca’ Tron zu rudern?
Ich schwenkte nach rechts in den Rio Foscari, der zum Canal Grande führte, überquerte den von den Fenstern der Palacios hell erleuchteten Kanal, verschwand im schmalen Rio San Pantalòn, versteckte die Gondel in den tiefen Schatten einer Brücke, die über den Rio führte, kletterte auf den Campo, rannte an der Kirche San Pantalòn vorbei und verschwand in der finsteren Calle, die zur Kirche Santa Maria Gloriosa dei Frari führte, der Kirche der Franziskaner.
Die Höhle des Löwen.
Würde die blutdurstige Bestie damit rechnen, dass sich die fliehende Beute in seiner Höhle verbarg?
»Aquí está la gondola! Pero dónde está él?«, hörte ich aus der Gasse hinter mir. Sie hatten meine Gondel gefunden! Dann ein weiterer Ruf, den ich nicht verstehen konnte. Schickte Fray Santángel seine beiden Gondeln aus, um mich zu suchen?
Ich blieb stehen und lauschte.
Schritte im Nebel.
Der Löwe witterte seine Beute!
Und wieder fragte ich mich, ob Fray Santángel damals in Córdoba an den Disputationen mit Kardinal Cisneros teilgenommen hatte. Wie gut er mich zu kennen glaubte!
Ich wandte mich um und rannte los. Über den Campo dei Frari hetzte ich an der Franziskanerkirche vorbei zur Brücke, dann stolperte ich durch die engen Gassen zum Rio di San Polo.
Als ich den Campo di San Polo erreichte, sah ich sie: vier Bewaffnete, die mir aus der Gasse entgegenkamen, die zum Ponte di Rialto führte!
Die andere Gondel hatte am Rio della Madonnetta angelegt, um mir den Weg zur Ca’ Venier abzuschneiden!
Was sollte ich nun tun?
Sie hatten mich in die Enge getrieben: Ich konnte weder vor noch zurück!
Der Traghetto am Canal Grande! Dort lagen Gondeln vertäut, mit denen ich den Kanal überqueren konnte! Tagsüber konnte man sich an etlichen Traghetto-Stellen des Kanals für ein paar Münzen von den Gondolieri über den Kanal rudern lassen. Schließlich gab es ja nur eine einzige Brücke über den Canal Grande: den Ponte di Rialto!
Aber die Gasse, die zum Traghetto führte, lag hinter den Bewaffneten, die sich mir mit gezogenen Degen näherten! Wie sollte ich die Gondeln erreichen?
Ich rannte los, quer über den Campo di San Polo, den Verfolgern entgegen. Dann wandte ich mich nach Norden, als wollte ich zu Tristan fliehen, und verschwand auf dem nassen Boden schlitternd in einer Calle. Inständig hoffte ich, dass es keine Sackgasse war, die am eisigen Wasser eines Kanals endete.
Ich hatte nur diese eine Chance! Den weiten Weg bis zur Ca’ Venier würde ich niemals schaffen!
»Cuidado que no le maten, el Cardenal le quiere en vivo! Der Kardinal will ihn lebend haben!«, brüllte Fray Santángel in seinem Zorn, nachdem ich ihm erneut entwischt war.
Ich überquerte das schwarze Wasser des Rio della Madonnetta, glitt auf den nebelfeuchten Stufen der kleinen Brücke aus, stolperte, stürzte, raffte mich auf, rannte weiter und bog nach rechts in eine enge, dunkle Gasse.
Dann lag der Traghetto am Canal Grande vor mir!
Entsetzt hielt ich den Atem an: Wo waren die Gondeln?
Dann sah ich sie. Sie trieben auf dem Kanal! Meine Verfolger hatten sie losgemacht, als sie vorbeiruderten.
Ich saß in der Falle!
Schritte in der Gasse hinter mir. Keuchender Atem.
»Aquí está, le tenemos! Da ist er, jetzt haben wir ihn!«
Wie sollte ich mich in der engen Gasse gegen ihre Klingen wehren? Ich hatte doch nur einen Dolch!
Sie kamen immer näher.
Und ich stand mit dem Rücken zum Kanal.
Vaya con Dios, Juan, y Él va contigo,
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