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Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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seine Arme, und er drückte mich fest an sich.
    »Bist du gefoltert worden?«
    »Nein, als Capo dei Dieci hat Tristan das nicht zugelassen!«, flüsterte er. »Wie geht es dir?«
    »Netanja und mir geht es gut«, beruhigte ich ihn.
    »Adonai sei Dank! Was ist mit David?«
    »Er kam eine halbe Stunde nachdem du in den Palazzo Ducale gebracht worden warst.«
    Die Bewaffneten rissen uns auseinander.
    »Was war denn geschehen?«, rief er zu mir hoch, als sie ihn ungeduldig die Stufen hinunterschleppten.
    »In der Weihnachtsnacht gab es wieder blutige Ausschreitungen. Einige Juden hatten sich vor randalierenden Christen in eine Synagoge geflüchtet. David wäre dem nach Blut dürstenden Gesindel beinahe in die Arme gelaufen. Er musste einen langen Umweg machen, um zur Ca’ Tron zu gelangen. Doch ihm ist nichts passiert! Er wartet in deiner Zelle!«
    Dann war Elija hinter der Ecke verschwunden, und ich wandte mich ab, um die Stufen emporzusteigen.
    Oben am Treppenabsatz stand der Doge. Er hatte Elija und mich beobachtet. Wie blass Leonardo war! Wie sehr er unter diesem Prozess litt!
    Ohne ihn eines Wortes zu würdigen, rauschte ich an ihm vorbei zur Sala del Consiglio dei Dieci. Im Vorraum begegneten mir zwei Ratsmitglieder mit Prozessakten unter dem Arm.
    Tristan würde wie immer der Letzte sein, der den Saal verließ. Sein zerschmettertes Bein bereitete ihm immer noch große Schmerzen. Er wollte nicht beobachtet werden, wenn er sich auf Giacometto gestützt die Treppen bis zum Cortile hinunterquälte.
    Er stand am Rednerpult und stopfte einen Stapel Dokumente in eine lederne Mappe. Er wirkte erschöpft – als hätte er nächtelang nicht geschlafen.
    »Schalom!«, sagte ich, und er fuhr herum. »Ist die Nachtsitzung des Sanhedrin, des Hohen Rates, schon beendet?«
    Als er verwirrt nickte, wandte ich mich um und schloss die Türen des Saals hinter mir. Dann schritt ich langsam zu ihm hinüber.
    Er blickte mich unverwandt an. »Was willst du?«
    »Ich wollte dir das hier bringen, Tristan.«
    Ich warf einen kleinen Lederbeutel zwischen die Prozessakten auf dem Pult.
    »Was ist das?«
    »Dreißig Silberlinge«, erwiderte ich verbittert. »Der Preis für ein Menschenleben. Oder für den Verrat an einem Freund.«
    Zornig schleuderte er den Beutel in Richtung der Sessel der Dieci. Während des Fluges öffnete er sich, und die Münzen klimperten auf den Steinboden des Saals. Tristan stützte sich mit den Ellbogen auf das Rednerpult und barg das Gesicht in beiden Händen.
    »Celestina, als Capo dei Dieci repräsentiere ich die Staatsmacht. Ich bin verantwortlich für die Aufrechterhaltung von Frieden und Freiheit! Ich kann nicht anders handeln …«
    »Diese Rechtfertigung habe ich schon einmal gehört!«, unterbrach ich ihn in einem Ton, der verletzen sollte. »War es nicht der Hohe Priester Joseph ben Kajafa, der sagte: Lasst uns diesen einen Menschen opfern, um der Macht Recht zu verschaffen?«
    Der Hieb saß!
    Ich hob eine der Silbermünzen auf und zeigte sie ihm. »Elijas Leben ist nicht mehr wert als diese Münze, nicht wahr?«
    »Du irrst, Celestina.« Er sah mir in die Augen. »Dir sollte sein Leben sehr viel mehr wert sein.«
    »Was verlangst du?«
    »Dich, Celestina! Ich will, dass du ihn verlässt und zu mir …«
    »Das werde ich nicht tun!«
    »Ich bitte dich: Sei vernünftig!«
    »Ich soll vernünftig sein?«, brauste ich auf wie ein Sturmwind. »Das wollte ich dir gerade ans Herz legen! Du weißt doch, dass Elija das Kind nicht ermordet hat!«
    »Die Anklage gegen Elija lautet nicht auf Ritualmord«, klärte er mich auf. »Der Junge – der kleine Sohn eines Fischers aus Malamocco auf dem Lido – ist nicht der Grund für diesen Prozess.
    Wie Elija nehme ich an, dass Fray Santángel das Kind ans Kreuz genagelt hat, weil er sich an ihm nicht anders rächen konnte. Elija ist ihm zwei Mal entwischt, und Santángel kann sich nach dem Mord an Menandros nicht mehr in der Serenissima blicken lassen, ohne hingerichtet zu werden. Und er wagt es wohl nicht, Cisneros unter die Augen zu treten, bevor Elija nicht zum Tode verurteilt wurde – wenn schon nicht durch die spanische Inquisition, so doch durch die venezianische. Gewiss hat er das gekreuzigte Kind in die Synagoge geschleppt und den anonymen Brief mit der Beschuldigung Elijas in die Bocca di Leone geworfen.
    Elija wird nicht des Ritualmordes, sondern der Häresie angeklagt. Es geht um das höchst gefährliche Buch, das er schreibt. Du weißt, wie entsetzt ich war,

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