Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
Vom Netzwerk:
lagen in Scherben, die wertvollen medizinischen Bücher waren zerfetzt.
    Wo waren David, Judith und Esther?
    Aus Davids Schlafzimmer drang ein verzweifeltes Weinen. Ich stürmte die Treppen hoch und riss die Tür auf.
    Mein Bruder, der auf dem Bett gekauert hatte, griff nach seinem Dolch und wollte mit der Klinge auf mich losgehen – da erkannte er mich. »Du bist gekommen, Elija!«
    Dann erst sah ich sie. Judith lag leblos auf dem Bett.
    Ihre Augen waren geschlossen, ihr Gesicht war blutüberströmt.
    »Mein Gott!« Ich kniete mich neben das Bett und ergriff Judiths kalte Hand. »Was ist geschehen?«
    »Die Christen haben das Haus gestürmt.« David fuhr sich mit der Hand über die Stirn und verschmierte das Blut auf seinem Gesicht – Judiths Blut?
    »In allen Räumen duftete es nach dem Schabbatessen, das Judith und Esther vorbereitet haben. Wie an jedem Freitagabend hatte Judith die Schabbatlichter entzündet – das haben die Gojim durch die Fenster gesehen. Sie dachten wohl, wir feiern ausgelassen Jeschuas Tod am Kreuz. Aber es waren doch nur die Schabbatkerzen!«, schrie er seinen Schmerz heraus.
    Entsetzt hörte ich zu, während er weitererzählte:
    »Sie sind in das Haus eingedrungen. Obwohl Karfreitag ist, hatte ich die Tür nicht verriegelt … vielleicht würde sich, wie letztes Jahr, ein blutig geprügelter Jude in mein Haus flüchten!
    Ich war im Behandlungsraum, um vor dem Schabbat ein wenig Ordnung zu schaffen, als sie die Tür aufbrachen, die Treppe hinaufstürmten und Judith …« Er schluchzte auf. »Sie haben mit den silbernen Schabbatleuchtern auf sie eingeschlagen, bis sie …« Er konnte nicht mehr weitersprechen.
    Jakob legte mir die Hand auf die Schulter. »Elija, die Christen haben Judith totgeschlagen, weil sie eine Kerze angezündet hat!«

    Judith starb an einem Karfreitag, an demselben Tag wie sieben Jahre zuvor ihre Schwester Sarah.
    Noch in derselben Nacht begruben wir sie in aller Stille auf dem jüdischen Friedhof am Lido – außer Tristan war niemand gekommen, um von ihr Abschied zu nehmen.
    Nach dem Begräbnis luden Celestina und ich David ein, in der Ca’ Tron zu wohnen. Auf keinen Fall wollten wir meinen Bruder mit seiner völlig verstörten Tochter allein in das verwüstete Haus zurückkehren lassen.
    Mein Bruder bezog die Räume, in denen Menandros gelebt hatte, und Jakob nahm seine künftige Schwiegertochter Esther zu sich in sein Haus auf der Insel Giudecca. Yehiel wollte mit seiner Verlobten die Trauerwoche halten. David war von Judiths Tod zu tief getroffen, um seiner Tochter Trost spenden zu können.
    Celestina und ich verbrachten viel Zeit mit David, der sich in ein erbittertes Schweigen verbiss. Mit Gott hingegen führte er endlose Streitgespräche über die Gerechtigkeit.
    Eine Woche später, am Schabbat, kam Tristan in unser Haus und berichtete von der feurigen Rede, die der Savio Grande Zaccaria Dolfin im Senat gehalten hatte. Er hatte die Juden beschuldigt, in der Stadt unerlaubt Synagogen zu errichten und mit jüdischem Geld den venezianischen Staat zu korrumpieren. Die Juden hätten einen verderblichen Einfluss auf Moral und Sitten in der Serenissima.
    Noch heute kann ich mich an die Worte des Senatsbeschlusses vom 29. März 1516 erinnern:
    ›Alle Juden müssen in den Häusern des Ghetto, der alten Geschützgießerei im Pfarrbezirk von San Gerolamo leben, damit sie nachts nicht durch die Gassen laufen. Zwei Tore werden an den beiden Zugbrücken, die ins Ghetto führen, errichtet. Diese Tore sollen bei Sonnenaufgang mit dem Klang der großen Glocke der Basilica di San Marco geöffnet und am Abend bei Sonnenuntergang wieder geschlossen werden. Vier christliche Wächter, die von den Juden bezahlt werden, sollen die Tore bewachen.‹

    Totenstille.
    »Ins Ghetto?« , fragte David entsetzt.
    »Es tut mir sehr Leid«, sagte Tristan, der uns den Beschluss vorgelesen hatte. »Innerhalb von drei Tagen müssen alle Juden mit ihrem Hab und Gut in die Häuser des alten Ghetto im Stadtteil Cannareggio umziehen – sie werden dorthin eskortiert.
    Während der kommenden Wochen werden hohe Mauern um das Ghetto errichtet werden. Alle Fenster und Türen, die aus dem Ghetto herausführen, werden zugemauert. Die Juden müssen zwei Boote bezahlen, die Tag und Nacht in den Kanälen patrouillieren, die die Insel des Ghettos umgeben. Juden, die sich während der Nacht außerhalb der Mauern aufhalten, werden streng bestraft.«
    Er konnte uns nicht in die Augen sehen.
    »Tore mit

Weitere Kostenlose Bücher