Die Evangelistin
…«
Ich schüttelte den Kopf: »Es fällt mir schwer, doch ich werde es tun!«
Sie drückte meine Hand, um mir Mut zu machen, und geleitete mich zum Crucifixus. Als ich davor auf die Knie fiel, um es demütig zu küssen, spürte ich, wie sich die Blicke der Gläubigen in meinen Rücken bohrten.
Und als ich mich wieder erhob, wehte ein erleichtertes Seufzen durch die Basilika:
Juan de Santa Fé bekennt sich zu Jesus Christus!
Mit gesenktem Blick bahnte ich mir einen Weg durch die Menge der zum Kreuz strömenden Gläubigen und ging an meinen Platz zurück.
»Señor de Santa Fé?«, vernahm ich die Stimme von Giorgio Emo, der neben mich getreten war. Vor einem Jahr hatte der Prokurator im Senat den Vorschlag gemacht, die Juden in ein eigenes Viertel auf der Insel Giudecca umzusiedeln. »Mein Freund Antonio Tron hat mir von Eurem Königreich der Himmel berichtet. Und von dem Prozess wegen des Verdachts auf Häresie! Das war wirklich ein unglaublicher Skandal! Einen großen Gelehrten wie Euch vor dem Tribunal anzuklagen – wie peinlich für die Inquisition! Ich freue mich, Euch kennen zu lernen, Señor! Denn ich muss gestehen, ich bin fasziniert von dem, was mir Antonio über Euch erzählt hat. Wann gedenkt Ihr denn, Das Königreich der Himmel zu veröffentlichen, Señor de Santa Fé … oder darf ich Euch Juan nennen?«
»Es ist noch nicht vollendet, Exzellenz.«
»Ich heiße Giorgio«, bot er mir die vertrauliche Anrede an. »Wann werdet Ihr Euer Buch beenden, Juan?«
»Ich weiß es noch nicht«, wich ich aus. »Vielleicht in den nächsten Monaten.«
»Das ist gut!«, freute er sich. »Wir brauchen große Gelehrte wie Euch – in Venedig, nicht im Vatikan!«
Er spielte auf den venezianischen Humanisten Pietro Bembo an, der dem Papst als Sekretär diente.
»Ich weiß, Juan, Ihr habt erst vor wenigen Wochen geheiratet und habt einen zwei Monate alten Sohn – er heißt León, nicht wahr? Aber ich bitte Euch: Lasst Euch mit der Vollendung Eures großartigen Werkes nicht allzu viel Zeit! Ganz Venedig wartet ungeduldig auf dieses geheimnisvolle Buch. Man hört die unglaublichsten Gerüchte über ein Gespräch zwischen Jesus und dem Verräter Judas«, flüsterte er mir zu. »Wollt Ihr und Eure bezaubernde Gemahlin nicht nach den Osterfeiertagen zu mir zum Abendessen kommen? Ich würde mich freuen …«
»Sehr gern, Giorgio«, murmelte ich höflich. »Danke für die Einladung!«
Wie schnell sich der Wind in Venedig drehte! Vor kurzem noch hatte mir, dem ›verdammten Juden‹, dem ›gefährlichen Häretiker‹, ein eiskalter Sturm ins Gesicht geblasen. Doch nun umschmeichelte mich, das geachtete und bewunderte Mitglied der venezianischen Nobiltà, ein warmer Sommerwind.
Nach dem Kniefall vor dem Gekreuzigten waren die Gläubigen an ihre Plätze zurückgekehrt, und der Patriarch stimmte feierlich das Gebet an:
»Pater noster qui es in coelis, sanctificetur nomen tuum …«
Trotz der feierlichen Stimmung herrschte plötzlich Unruhe in der Kirche. Viele Gläubige wandten sich neugierig zum Portal um.
»… adveniat regnum tuum …«
Aufgeregtes Getuschel.
»Ist er ein Jude?«
»Ein Christusmörder am Karfreitag in der Kirche! Welch eine Unverschämtheit!«
»Wie kann er es wagen, dieser gottverfluchte Jude!«
»… fiat voluntas tua, sicut in coelo et in terra …«
Ich sah zum Portal hinüber und erschrak.
Dort stand Jakob – sein Blick irrte durch die überfüllte Kirche. Er suchte mich!
»… et dimitte nobis debita nostra, sicut et nos dimittimus debitoribus nostris …«
Als Jakob mich zwischen den Gläubigen entdeckte, eilte er mir entgegen. »Adonai sei Dank, ich habe dich gefunden!« Er rang nach Atem – offenbar war er gerannt.
»… libera nos a malo, quia tuum est regnum et potentia et gloria in saecula saeculorum, Amen.«
»Elija, du musst sofort mit mir zu David kommen«, flüsterte Jakob, packte mich am Arm und zog mich mit sich fort. »Etwas Furchtbares ist geschehen.«
Als Jakob, Celestina und ich völlig außer Atem den Campo San Luca erreichten, blieb ich erschrocken stehen: Die Fensterscheiben von Davids Haus waren eingeschlagen, und die Haustür stand weit offen.
Als ich das Haus betreten wollte, sah ich, dass die Mesusa vom Türstock gerissen und zertreten worden war. Das gefaltete Pergament mit dem Schma Israel lag im zertrampelten Blumenbeet.
Davids Heim war völlig verwüstet worden!
Die Möbel waren zertrümmert, die Gläser und Phiolen mit Kräutern und Salben
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