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Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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Schlössern und bewaffnete Wächter – wie in einem Gefängnis!«, rief David entsetzt. »Ihr Christen wollt uns einsperren!«
    Tristan hob beschwichtigend die Hände. »Nur zur Sicherheit …«
    »Wessen Sicherheit?«, brauste David auf. »Wann hätte je ein Jude einen Christen bedroht? Wann hätte es ein Jude gewagt, sich zu wehren, wenn er misshandelt wird? Tristan, die Christen haben meine Frau ermordet!«
    »Die politische Lage in Venedig ist angespannt. Der jahrelange Krieg um unsere Freiheit und Unabhängigkeit hat die Serenissima ruiniert. Kaiser Maximilian ist mit seinem Heer wieder einmal auf dem Weg nach Italien, der Papst hat mit dem französischen König ein Konkordat geschlossen, und Venedig steht völlig allein mit dem Rücken zum Abgrund.
    Viele Senatoren fürchten eine erneute Invasion der Türken auf venezianisches Gebiet – und ihre Angst ist berechtigt, denn wir haben keine Verbündeten!
    Die Franziskaner hetzen die Venezianer gegen die Juden auf. Seit Monaten kommt es an christlichen und jüdischen Feiertagen immer wieder zu blutigen Unruhen, in denen sich die inneren Spannungen der Republik entladen.
    Selbst die venezianische Nobiltà ist seit Jahren zerstritten. Nur in dieser einen Frage waren sich die Adligen erstaunlich einig: Die Republik Venedig braucht endlich innere Sicherheit und Frieden! Hundertdreißig Senatoren votierten für das Ghetto, vierundvierzig stimmten dagegen, acht enthielten sich.«
    Tristan fuhr sich mit der Hand über die Stirn: »Jakob und du – ihr müsst mit euren Kindern innerhalb der nächsten drei Tage ins Ghetto umziehen. Elija darf mit Netanja … León in der Ca’ Tron bleiben, denn er ist kein Ju…«
    »Siebenhundert Juden – Männer, Frauen und Kinder – auf dieser kleinen Insel mit zwei Brunnen!«, unterbrach ihn David. »Ich kenne das Ghetto. Ich habe Patienten, die nicht weit entfernt am Canal Grande wohnen. Die Insel ist viel zu eng! Die hygienischen Verhältnisse sind fürchterlich!
    Reiche jüdische Familien wie die Meshullams und die Ibn Dauds und arme wie die Verwandten des kleinen Moses Rosenzweig, die sich kaum über Wasser halten können, werden im Ghetto leben … streng orthodoxe Juden wie Jakob Silberstern und rekonvertierte Conversos wie Salomon Ibn Ezra … Aschkenasim und Sefardim: Menschen mit unterschiedlichsten Riten, Gebräuchen, Gewohnheiten und Sprachen: Deutsch, Französisch, Italienisch, Arabisch, Spanisch und Portugiesisch – die babylonische Sprachverwirrung!
    Was ist mit den türkischen Juden, die in den letzten Jahren aus dem Osmanischen Reich gekommen sind? Und was ist mit den Juden, die ins Land ihrer Väter ausgewandert waren – nach Jeruschalajim, Jericho und Tiberias – und die nun wieder nach Venedig zurückgekehrt sind, weil die Serenissima, und nicht das Gelobte Land, das Paradies auf Erden ist?
    All diese Menschen werden auf engstem Raum zusammenleben! Es wird zu Spannungen und Gewalt kommen! Um Gottes willen, Tristan, ich beschwöre dich …«
    Aber Tristan schüttelte nur den Kopf.
    »Was ist mit sefardischen und aschkenasischen Synagogen?«, fuhr David bitter fort. »Mit Mikwaot – den rituellen Reinigungsbädern? Mit Jeshibot und Midraschim – den Rabbinenschulen? Mit jüdischen Buchläden? Mit jüdischen Lebensmittelläden, mit jüdischen Metzgern, die koscher schlachten, mit jüdischen Bäckern, die wissen, dass die Mazzot für das Pessach-Fest ohne Christenblut hergestellt werden …«
    »Lass deinen Zorn nicht an Tristan aus! Es ist doch nicht seine Schuld«, erinnerte ich meinen Bruder. »Tristan hat doch gegen das Ghetto gestimmt. Er schämt sich dafür. Und trotzdem ist er gekommen, um es uns persönlich mitzuteilen, bevor wir es von den Bewaffneten des Senats erfahren, morgen, wenn sie an die Türen der Juden klopfen werden, um uns ins Ghetto zu führen. Dafür verdient Tristan unsere Hochachtung und unseren Respekt, nicht unseren Zorn.«
    Als David sich unwillig abwandte, fügte ich hinzu: »Im Übrigen bin ich sicher, dass Asher all diese Argumente dem Senat bereits vorgetragen hat.«
    »Er hat lautstark gegen den Exodus ins Ghetto protestiert«, bestätigte Tristan. »Asher Meshullam verwies auf die jüdischen Bankiers wie seinen Bruder Chaim, die der Republik Venedig in den Jahren des Krieges immer wieder große Summen geliehen haben. Er sprach von den jüdischen Ärzten wie David Ibn Daud – ja, er nannte deinen Namen, David! –, die mitten in der Nacht zu ihren christlichen Patienten gerufen

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