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Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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San Marco mit dem Dogen zu speisen.
    Leonardo Loredans Verhalten mir gegenüber hatte sich geändert, seit ich Celestinas Gemahl war. Wenn er mich, den berühmten Rabbi Elija Ibn Daud, den Urenkel von König David, noch vor Monaten auf dem Fest im Dogenpalast mit ausgesuchter Höflichkeit empfangen hatte, so gab er sich nun sehr freundschaftlich, ja geradezu herzlich. Mein Bekenntnis zum christlichen Glauben bedeutete ihm offenbar sehr viel. Ich war ein leuchtendes Vorbild für viele andere, die mir auf meinem Weg zu Jesus Christus folgen konnten. Eines Tages fragte mich der Doge, ob sich mein Bruder David und dessen Gemahlin nicht auch zum Übertritt entschließen könnten.
    David und Judith sah ich während des Karnevals nur selten. Obwohl während der ausgelassenen Narrentage alle Standesunterschiede aufgehoben waren, wagten sich die Juden kaum auf die Straßen. Und zudem mied mein Bruder die Ca’ Tron, um mich zu schützen.
    Doch dann machten wir uns einen Spaß daraus, uns an verborgenen Orten zu treffen. Wenn wir uns sehen wollten, sandten wir einander verschlüsselte Nachrichten wie ›Könige und Propheten lesen das Buch Ijob‹, was bedeutete: Wir treffen uns heute Nachmittag bei der Kirche San Giobbe. Der Prophet Jeremia wies David nach San Geremia, der Prophet Sacharja nach San Zaccaria hinter dem Dogenpalast, der Sündenfall im Buch Genesis bezog sich auf die Skulptur von Adam und Eva an der Ecke des Dogenpalastes zur Piazzetta, und die Erwähnung von König Salomos Flotte, die ins sagenhafte Goldland Ophir segelte, war ein Hinweis, dass ich ihn vor Marco Polos Haus am Rio dei Miracoli finden würde. Aus Furcht vor einer Entdeckung trafen David und ich uns nie zwei Mal nacheinander an demselben Ort.
    Am 14. Nisan 5276, dem 17. März 1516, räumten David und Judith wie jedes Jahr vor Pessach das Gesäuerte aus dem Haus. Zum ersten Mal in meinem Leben beging ich den Sederabend nicht mit meiner Familie. Ich war sehr traurig, denn nie wieder würde ich Pessach, ›die Zeit unserer Freiheit‹, den Auszug des Volkes Israel aus der Gefangenschaft in Ägypten, mit meinem Bruder feiern.
    Alle, die Elija, den Christen, und David, den Juden, misstrauisch beobachteten, sollten den Eindruck gewinnen, wir hätten uns nach meiner Bekehrung zum Christentum zerstritten: Voller Unverständnis für den Glauben des anderen hätten wir uns voneinander abgewandt, um nie wieder ein Wort miteinander zu sprechen.
    Wie konnten wir denn ahnen, dass dieses raffinierte Versteckspiel in den Gassen von Venedig am Ende auf ebenso tragische Weise enden würde wie jenes, das wir jahrelang als Conversos in Granada gespielt hatten!

    … und nach der Zeit des Schweigens, dem feierlichen Wortgottesdienst und dem Vortrag der Passionsgeschichte aus dem Evangelium des Johannes wurde ein ans Kreuz genagelter, sich vor Schmerzen windender Jesus in den Altarraum gebracht und enthüllt.
    Anlässlich der Feier des Leidens und Sterbens Jesu Christi besuchten Celestina und ich die fast dreistündige Messe in San Marco. In Granada hatte ich es immer vermieden, am Karfreitag den Gottesdienst zu besuchen – die geistige Selbstvergewaltigung war mir immer zu qualvoll erschienen. Aber nachdem ich nun als Christ in Venedig lebte und als Celestinas Gemahl, Antonios Cousin, Tristans Freund und Bekannter des Dogen einen angesehenen gesellschaftlichen Rang einnahm, konnte ich mich nicht weigern: Die Karfreitagsmesse in San Marco war das gesellschaftliche Ereignis und alles, was Rang und Namen hatte, erschien zum feierlichen Gottesdienst mit dem Dogen.
    Schaudernd betrachtete ich die Figur des Gekreuzigten, die in einer feierlichen Prozession in den Altarraum getragen worden war. Die zum Zerreißen gespannten Muskeln seines leidenden Körpers. Die furchtbaren Nagelwunden in Händen und Füßen. Das Blut, das aus den von der Dornenkrone aufgerissenen Wunden über sein schmerzverzerrtes Gesicht lief. Den Lanzenstich in seiner Seite.
    Ich musste an das gekreuzigte Kind denken, das David und ich an Weihnachten in der Synagoge gefunden hatten. Es kostete mich einige Überwindung, mich nicht an den Gläubigen vorbeizudrängen, um aus der Kirche zu fliehen.
    Celestina, die dicht neben mir stand, ergriff im feierlichen Halbdunkel der Kirche verstohlen meine Hand.
    »Wirst du es tun?«, fragte sie besorgt. Als ich nicht sofort antwortete, flüsterte sie: »Ich könnte vom langen Stehen während der Messe ohnmächtig werden. Dann müsstest du mich aus der Kirche tragen

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