Die Evangelistin
ich mich auf einen Stein sinken – ich musste mich besinnen.
In Gedanken versunken fuhr ich mit dem Finger über das in einen Stein gemeißelte Symbol des Davidsterns, als mein Bruder zu mir trat.
»Als wir Kinder waren, hat Vater uns die Geschichte unserer Familie erzählt«, sagte er, ohne den Blick von den Ruinen zu wenden. »Immer habe ich davon geträumt, eines Tages hierher zu kommen. Und nun sind wir in Kafarnaum! Das ist …« Ihm fehlten die Worte.
Glückselig ist, wer nach Jahren der Verfolgung und der Flucht noch lachen kann, hoffen, träumen, sehnen und alles ertragen. Glückselig ist, wer nach einer langen Reise, die ein ganzes Leben gedauert hat, endlich am Ort seiner Sehnsucht ankommt.
Während der Nacht lagerten wir unter einem uralten, knorrigen Ölbaum, nicht weit von der Stelle entfernt, wo Jeschuas Haus gestanden haben könnte.
»Dein Versuch, über das Wasser zu laufen, ist kläglich gescheitert, mein Prophet Elija!«, rief Celestina mir übermütig vom Ufer aus zu, als ich später im See ein erfrischendes Bad nahm. Dann ließ sie die weiten arabischen Gewänder, die sie, wie David und ich, auf dem Souk in Akko gekauft hatte, ins Gras sinken, sprang in die Fluten und schwamm zu mir herüber.
In der Abenddämmerung brieten wir am Feuer die Fische, die uns der Galiläer, der am Berg der Seligpreisungen seine Netze flickte, verkauft hatte. Nach dem Essen lagen wir noch eine Weile träge um das Funken sprühende Feuer. Schließlich erhob sich Celestina, ergriff meine Hand, spielte auf provozierende Weise mit dem Ring an meinem Finger und fragte David, ob er Netanja in dieser Nacht unter seiner Decke schlafen lassen könne, damit wir ein wenig Zeit für uns hätten. Als mein Bruder nickte, zog sie mich mit sich fort zum Ufer des Sees, wo wir uns im Mondlicht zärtlich liebten.
Am nächsten Morgen brachen wir nach Süden auf, ritten am Ufer entlang bis Magdala, der Heimat von Jeschuas Gemahlin Mirjam, dann weiter bis Tiberias, der Hauptstadt des Tetrarchen Herodes Antipas. Aus Benjamin de Tudelas Reisebeschreibung wusste ich, dass der große sefardische Dichter Jehuda Halevi hier begraben lag.
Von Tiberias führte eine Straße nach Kana, dem Ort des Weinwunders, und weiter nach Nazaret, doch wir ritten gemächlich weiter am See entlang und schlugen unser Nachtlager in einem schattigen Eukalyptushain am Jordan auf.
Nach dem Abendessen saßen Celestina und ich noch lange im Uferschilf. Als wir nach Mitternacht endlich zum Feuer zurückkehrten, hatte sich David mit Netanja im Arm in seine Decke eingerollt und war längst eingeschlafen.
In der Morgendämmerung ritten wir am Jordan entlang weiter nach Süden. Drei Tage später erreichten wir Jericho, die Stadt der Palmen, wo wir in einer Karawanserei übernachteten. Am nächsten Tag kamen wir in Al-Kuds an, der ›Heiligen Stadt‹ – so nannten die Muslime Jeruschalajim.
Spät nachmittags erklimmen wir den Ölberg.
Endlich sehen wir sie vor uns auf der gegenüberliegenden Höhe jenseits des Kidron-Tals: die Stadt Davids, Jeschuas und Mohammeds, die die heiligsten Stätten dreier Religionen bewahrt – die Klagemauer, die Grabeskirche und den Felsendom.
Im Licht der sinkenden Sonne schimmert die goldene Kuppel des Felsendoms auf dem Tempelberg, und der Gebetsruf eines Muezzins weht über das Tal des Kidron bis hinauf zum Ölberg. Es ist Freitag, der heilige Tag der Muslime.
Ich blinzele ins Gegenlicht und versuche mir vorzustellen, wie der goldgleißende Tempel ausgesehen haben mag, den Flavius Josephus in seiner ganzen Pracht beschrieben hat und an dessen Stelle jetzt die Al-Aksa-Moschee über dem Tempelberg aufragt.
David lenkt sein Maultier neben meines. »Die Sonne steht schon sehr tief. Auf keinen Fall will ich den Schabbat als Diego de Santa Fé in einem Pilgerhospiz oder einem Franziskanerkloster verbringen.«
Mein Bruder treibt sein Maultier an und trabt den Ölberg hinab in Richtung des Stadttores. Celestina und ich folgen ihm durch den Olivenhain des Gartens Getsemani.
Am Tor nördlich des Tempelbergs kaufen wir gelbe Turbane, die wir als Juden in Jeruschalajim tragen müssen. Nachdem David und ich unsere Turbane gewickelt haben und Celestinas Haar mit einem gelben Schal bedeckt ist, reiten wir in die Stadt und folgen einer langen, geraden Straße nach Westen.
Die Läden des Souk sind geschlossen. Es ist Freitag Nachmittag – offenbar befinden wir uns im muslimischen Viertel.
Plötzlich zügelt David sein Maultier und weist
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