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Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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mit ausgestrecktem Arm auf eine Tafel in drei Sprachen – Hebräisch, Arabisch und Lateinisch –, die an einer Hauswand befestigt ist:

    VIA DOLOROSA

    Auf diesem Weg hat Jeschua sein Kreuz getragen!
    Wird unser Leidensweg nach all den Jahren hier in Jeruschalajim enden?
    Nachdem wir den Tempelberg und die Burg Antonia hinter uns gelassen haben, reiten wir die schmale Gasse entlang zum christlichen Viertel. Wir überholen eine Gruppe betender Franziskanermönche, die mit einem schweren Kreuz auf ihren Schultern der Via Dolorosa folgen.
    David wirft mir einen langen Blick zu, den ich erwidere.
    Die Straße biegt nach links ab. Ein lateinisches Schild verkündet, dass Jeschua an dieser Stelle zum ersten Mal mit dem Kreuz gestürzt ist.
    Dann wendet sich die Via Dolorosa erneut nach Westen. Wir fragen nach dem Weg zur Grabeskirche und werden schließlich von einem arabischen Jungen gegen ein Bakschisch durch enge, verwinkelte Gassen geführt.
    Die Straßen von Jeruschalajim erinnern mich ein wenig an das Gassenlabyrinth von Venedig. Man weiß nie, was sich hinter der nächsten Straßenecke verbirgt: eine prächtige Moschee, ein orientalischer Souk mit leuchtend bunten Teppichen, Silberwaren, Gewürzen und Ikonen oder eine Gasse, die mit köstlichen Düften erfüllt ist – der Schabbat steht vor der Tür!
    Vor der Grabeskirche springen wir aus den Sätteln und binden die Maultiere fest. Dem Jungen drücken wir noch ein paar Münzen in die Hand, damit er auf unser Gepäck aufpasst.
    Im Vorhof ziehen David und ich die gelben Turbane vom Kopf. Gemeinsam mit Celestina, die den schlafenden Netanja im Arm hält, betreten wir die gewaltige Kirche, ein weitläufiges Labyrinth von über- und untereinanderliegenden Kapellen. Staunend betrachtet Celestina die Schreine und Altäre der verschiedenen christlichen Konfessionen – lateinisch, griechisch, koptisch, syrisch und äthiopisch.
    Im linken Seitenschiff, nahe dem Portal, das Sultan Sala ad-Din zumauern ließ, finden wir die Golgata-Kapelle. Wir steigen die fünfzehn Stufen hinauf zu dem Felsen, auf dem das Kreuz gestanden hat.
    Es ist ein bewegender Augenblick, den wir, jeder für sich, still erleben und erleiden.
    Was haben wir im Zeichen dieses Kreuzes erdulden müssen!
    »Es war ein weiter Weg von Granada bis Jeruschalajim«, sagt David, als er sich schließlich zu mir umwendet. »Du denkst an Aron, nicht wahr?«
    Ich nicke traurig. »Wenn er doch bei uns wäre! Wir werden ihn wohl nie wiedersehen.«
    Wir verlassen Golgata.
    Während wir die Stufen zum Hauptschiff hinabsteigen, ergreife ich Celestinas Hand und halte sie fest. Sie lächelt, und ihre Augen funkeln im Schein der Kerzen.
    Arm in Arm gehen wir mit unserem schlafenden Sohn zur Rotunde mit der Grabkapelle, der Stätte mit dem leeren Grab Jeschuas, für die Christen der Ort der Auferstehung.
    Über dem Portal der kleinen Kapelle hängen zahlreiche Lampen der Lateiner, der Griechen und Armenier, und etliche Ikonen bedecken die Wände. Mehrere goldene Leuchter mit hohen Kerzen säumen das halbrunde Tor, das weit offen steht. Wir neigen die Köpfe und treten ein.
    Im Vorraum des Grabes, in der Engelskapelle, sollen am Ostermorgen zwei Männer in strahlendem Gewand die Frauen gefragt haben: »Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?«
    Ein schmaler, niedriger Durchgang führt in die Grabkammer.
    Dutzende von Öllampen der verschiedenen Konfessionen hängen von der Decke herab und tauchen den Raum in ein sanftes, goldenes Leuchten. Ikonen schimmern an den Wänden.
    Ein schwerer Duft von Weihrauch hängt in der Luft.
    Rechts von uns sehen wir die steinerne Grabbank, auf der Jeschuas Körper ruhte, während er noch immer blutend im Grabtuch lag.
    Mit beiden Händen streiche ich über den kalten Fels.
    Im Herzen berührt sprechen Celestina und ich, jeder für sich, ein Gebet, das weder jüdisch noch christlich ist.
    Es ist eine Bitte um Schalom, um Frieden und Versöhnung, für Lebensfreude, Zufriedenheit und Glück für alle Menschen – gleichgültig, in welchem Glauben sie ihr Heil suchen.
    Denn das Herz des Menschen ist der wahre Tempel Gottes.

A NMERKUNGEN
    Die Erläuterungen zu den mit einem Sternchen markierten Begriffen sind alphabetisch sortiert.

    Abendmahl. Die Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas inszenieren das Abendmahl als traditionelles Sedermahl für den Abend des ›ersten Tages des Festes der ungesäuerten Brote‹ (gemäß Levitikus 23,5–6 der 15. Nisan). Das Sedermahl wird jedoch in der

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