Die Evangelistin
anonymen Beschuldigungen gegen ihn hatte er mit keinem Wort erwähnt. Und ich hatte ihm nicht verraten, dass ich davon wusste: von dem Brief, von seinem Gespräch mit Leonardo und von seiner Ernennung. Ich hatte ihm nicht gesagt, dass ich von seinem Herzenswunsch, mich zu heiraten, wusste. Auch von Elija ahnte er nichts.
Ganz in Gedanken hatte ich Ibn Shapruts Buch durchgeblättert, ohne auch nur eine Zeile des hebräischen Textes zu lesen. Auf fast allen Seiten fand ich am Rand Bemerkungen, offenbar von Elija in Hebräisch hingeschrieben. Er musste sehr intensiv mit diesem Buch gearbeitet haben – es war ihm offenbar sehr wichtig, wenn er so viel unterstrich und kommentierte.
Immer wieder stieß ich auf einen Namen: Kardinal Pedro de Luna, der spätere Gegenpapst Benedikt XIII . Hatte Ibn Shaprut in Spanien mit ihm über den jüdischen Glauben disputiert? Der Titel Der Prüfstein ließ mich das vermuten.
Dann schlug ich das zwölfte Kapitel auf. Der Rand war so eng in feiner hebräischer Schrift beschrieben, dass kein weiterer Gedanke auf diesen Seiten Platz gehabt hätte. Auf manchen Seiten drang Elijas Schrift bis zwischen Ibn Shapruts Zeilen. Hätte ich doch nur lesen können, was Ibn Shaprut geschrieben hatte! Ich blätterte weiter, dann blieb mein Blick an einem bekannten lateinischen Satz hängen: ›Tu es Petrus, et super hanc petram aedificabo ecclesiam meam – Du bist Petrus, und auf diesem Stein werde ich meine Kirche errichten.‹
Das waren die berühmten Worte, die Jesus im Matthäus-Evangelium zu Petrus sprach: die Kirchengründung* unter der Führung des Petrus als erster Papst. Elija hatte diese Worte an den Rand der Seite geschrieben. Warum? Worauf bezogen sie sich?
Es war nur eine Ahnung, doch trotz der Mittagshitze ließ sie mich frösteln. Und wenn dieses zwölfte Kapitel nun … Nein, das konnte nicht sein!
Ich nahm das Griechisch-Hebräische Wörterbuch und begann sehr mühsam, den hebräischen Absatz neben ›Tu es Petrus …‹ zu übersetzen.
›Du bist ein Stein. Und auf dir will ich mein Haus des Gebets bauen.‹
Mit der tintentropfenden Feder in der Hand starrte ich auf die Worte, die ich niedergeschrieben hatte. Ich war, um es zurückhaltend zu formulieren, erschlagen von den Worten und den Trümmern eines einstürzenden Glaubens. Tausend Gedanken schwirrten durch meinen Kopf.
Der Text in Ibn Shapruts Prüfstein war ein hebräisches Matthäus-Evangelium! Dieses Evangelium unterschied sich von den griechischen und lateinischen Texten! Mir stockte der Atem: War es älter? War es der ursprüngliche Text oder eine Rückübersetzung ins Hebräische?
Das griechische Wortspiel Petros als Namen für den Jünger Simon bar Jona und petra für den Stein, auf dem Jesus seine Kirche bauen wollte, fehlte. Stattdessen fand ich ein hebräisches Wortspiel zwischen ›Stein‹ und ›ich errichte‹. Aber was Jesus errichten wollte, war nicht eine ecclesia , eine judenchristliche Gemeinde oder neue Kirche, sondern ein jüdisches Gebetshaus! Mit anderen Worten: eine Synagoge.
Jesus Christus hatte keine Kirche gegründet.
›Du bist ein Stein. Und auf dir will ich mein Haus des Gebets bauen.‹
Fassungslos starrte ich auf die Worte, die so weit reichende Folgen hatten, nicht nur theologischer Art, denn der christliche Glaube zerbrach an diesen Worten, sondern auch machtpolitischer Art. Für die Kirche, die katholische wie die orthodoxe. Für den Kirchenstaat, den mächtigsten Staat in Italien. Für den Papst. Für die Verbrennung von Wissenden und Unwissenden, Gläubigen, Irrgläubigen und Ungläubigen auf den Scheiterhaufen der Inquisition. Für die Judenverfolgung …
Ich zerriss das Papier in kleine Fetzen und begann noch einmal zu übersetzen, Wort für Wort. Vielleicht hatte ich, da ich das Hebräische nicht vollkommen beherrschte, irgendetwas falsch verstanden?
Doch dann standen wieder dieselben Worte auf dem Papier: Bet Tefilla – Haus des Gebets. Synagoge, nicht Kirche!
Mein Herz raste. Ich atmete tief durch.
Wer war Rabbi Shemtov ben Isaak Ibn Shaprut? Woher stammte das hebräische Evangelium? War es eine Rückübersetzung des griechischen Matthäus-Evangeliums oder eine Fälschung zur Rechtfertigung des jüdischen Glaubens?
Was stand noch in Ibn Shapruts Buch – welche gefährlichen Geheimnisse, welche überraschenden Erkenntnisse enthielt es?
Ein Labyrinth von Fragen, und kein Faden der Ariadne, der mich zu einer Antwort führte! Ich brauchte einen Führer, der sich in
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