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Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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schrieb, und ich zitierte aus dem Gedächtnis: ›Matthäus, auch Levi genannt, der zuerst Steuereintreiber war und dann Apostel, hat in Judäa ein Evangelium Christi in der hebräischen Sprache und Schrift niedergeschrieben. Wer es anschließend in die griechische Sprache übersetzt hat, ist nicht bekannt. Der hebräische Text wird bis heute‹ – Hieronymus lebte im vierten Jahrhundert! – ›in der Bibliothek von Caesarea aufbewahrt.‹
    Und als sei das alles noch nicht genug: Hieronymus gab sogar zu, dass er ein Exemplar dieses hebräischen Evangeliums in der Hand gehalten hat, dass er damit gearbeitet und es sogar kopiert hat. Vermutlich hielt er den hebräischen Text für den Urtext der griechischen Übersetzung.«
    »Das ist unglaublich!«
    »Epiphanius, Bischof von Salamis, berichtet im vierten Jahrhundert von einem hebräischen Matthäus-Evangelium, das nicht mit den überlieferten Texten übereinstimmt und in der Gemeinde verbreitet war. Auch andere große Kirchenlehrer erzählen von einem solchen Evangelium, so etwa Cyril von Jeruschalajim und Clemens von Alexandria.«
    Ich schwieg und dachte nach.
    »Also gut, du hast mich überzeugt«, gab ich schließlich zu. »Es gab also ein hebräisches Evangelium, das Matthäus nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 niedergeschrieben hat. Oder irgendjemand anderer, der sich seines Namens bediente – was in der Antike unter Schriftstellern ja durchaus üblich war.
    Du hast mich auch überzeugt, dass Matthäus selbst sein Evangelium in die griechische Sprache übersetzte oder das griechische Evangelium ganz neu verfasste. Das ist der griechische Text in unseren Bibeln.« Ich holte tief Luft. »Das heißt aber nicht , dass Rabbi Shemtovs hebräisches Evangelium im Prüfstein mit dem von den Kirchenlehrern bezeugten hebräischen Evangelium identisch ist.«
    »Das ist wahr«, gab er zu.
    »Es gibt meines Wissens auch kein anderes hebräisches Evangelium, das von den Evangelisten niedergeschrieben und durch die judenchristliche oder die jüdische Gemeinde überliefert wurde. Und auch keines, das später gefunden wurde – in der Genisa einer jüdischen Synagoge oder in der Bibliothek eines christlichen Klosters.«
    Sollte ich Elija von dem Papyrus erzählen, den ich in der Bibliothek des Katharinenklosters im Sinai gefunden hatte? Ich entschied mich dagegen, weil ich den halb zerfallenen hebräischen Text nicht lesen konnte – aber aus eben diesem Grund wollte ich die Sprache lernen!
    Ich atmete tief durch: »Soweit ich weiß, gibt es nicht einmal ein hebräisches Evangelium, das von humanistischen Gelehrten als Fälschung bezeichnet wurde.«
    »Auch das ist wahr«, nickte Elija.
    »Shemtovs Evangelium ist also das einzige hebräische Evangelium …«
    … sofern mein zu Staub zerfallender Papyrus aus dem Sinai nicht doch ein abgerissenes Stück eines antiken Evangeliums war.
    »Ja, das glaube ich«, stimmte Elija zu.
    »Shemtovs Evangelium könnte eine Rückübersetzung aus dem griechischen Evangelientext ins Hebräische sein, die er nach der Disputation mit Kardinal Pedro de Luna selbst vorgenommen hat, um seine Thesen zu rechtfertigen: dass Jesus nicht Gottes Sohn war, nicht der Erlöser der Welt, dass er keine Kirche gründete und die Taufe nicht befahl.
    Vielleicht wusste Shemtov aus den Schriften der Kirchenväter von diesem hebräischen Evangelium, und weil er es nicht finden konnte, hat er es selbst verfasst. Bitte versteh mich nicht falsch, Elija! Ich sage nicht: Er hat das Evangelium böswillig gefälscht. Ich sage: Er könnte es nach bestem Wissen und Gewissen rekonstruiert haben. Als Trost in Zeiten der Verfolgung und als scharfe Waffe zur Selbstverteidigung in Glaubensdisputationen, die auf dem Scheiterhaufen enden können.«
    »Das war auch mein erster Gedanke, als ich Shemtovs Evangelium las«, gab Elija zu. »Seit Jahren habe ich mich mit dem Text beschäftigt. Ich habe ihn mehrmals gelesen, die Sprache untersucht, die hebräischen Wortspiele in Jeschuas Worten, die in keiner anderen Sprache zu verstehen sind, die hebräische Poesie in Jeschuas Gleichnissen, die sich nicht übersetzen lässt, ohne den Sinn zu verändern, und die rabbinischen Kommentare, die Shemtov in den Evangelientext eingestreut hat. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Shemtov dieses Evangelium nicht verfasst hat. Denn er hat den heiligen Gottesnamen an einigen Stellen eingesetzt, wo er in den lateinischen und, wie ich annehme, auch in den griechischen Texten fehlt. Kein

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