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Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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gläubiger Jude würde einem christlichen Text dadurch Autorität und Glaubwürdigkeit verleihen oder ihn gar würdigen und heiligen, indem er den Gottesnamen einfügt, wo er nicht hingehört. Das ist völlig undenkbar!
    Das heißt: Shemtov war nicht der Verfasser des Evangeliums. Sondern er hatte einen hebräischen Text als Vorlage, der den Gottesnamen bereits enthielt … einen Text aus der Zeit, in der das noch keine theologischen Probleme aufwarf. Es muss also ein sehr alter Text sein.«
    Elija sprach so begeistert von dem Evangelium, durch dessen Textschichten er sich jahrelang hindurchgewühlt und dessen Worte er wie Steine umgedreht und gereinigt hatte, um zu erkennen, welches Geheimnis, welches Gleichnis, welche andere Auslegung sich darunter verbarg! Ich musste ihn nur ansehen, um zu erahnen, wie sehr er mit dem Sinn gerungen hatte. Mit seinem eigenen Glauben. Mit Gott.
    Gebannt beobachtete ich ihn, als er mit leuchtenden Augen weitersprach:
    »Allerdings bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Shemtovs Evangelium aber auch keine getreue Abschrift des Originals von der Hand des Evangelisten sein kann, obwohl die Sprache aus biblischer Zeit stammt.
    Ich glaube, dass er eine oder mehrere Vorlagen hatte, die er selbst veränderte, um den alten Text zu rekonstruieren, den jüdische Kopisten in den letzten Jahrhunderten absichtlich oder unabsichtlich ebenso verändert hatten wie griechische Kopisten die griechischen Texte. Aber ich habe keine Ahnung, was Shemtov aus theologischen Gründen umschrieb und welche Auswirkungen dies auf den ursprünglichen Sinn hat.
    Eines ist sicher: Trotz aller Veränderungen, die der hebräische Text im Verlauf von eintausendvierhundert Jahren erlitten hat – schon Epiphanius sprach ja von einem veränderten Text! –, und trotz aller Abwandlungen, die Shemtov selbst nach 1375 vorgenommen haben könnte, kommt sein Evangelium dem Urtext des Evangelisten näher als jede andere griechische oder lateinische Version. Und das fasziniert mich!«
    Ich nickte. »Du hast Recht, Elija: Die Evangelien wurden niemals so genau kopiert wie die Tora. Jeder Kopist hat Dinge weggelassen und angefügt, wie es ihm oder seinem Auftraggeber passte – von den Schreibfehlern, die den Wortsinn entstellen, will ich gar nicht reden.«
    »Dann stimmst du mir also zu, dass Shemtovs Evangelium nicht die getreue Abschrift des Originals des hebräischen Matthäus-Evangeliums ist, aber diesem Urtext sehr nahe kommt, sehr viel näher als die griechischen und lateinischen Evangelien?«
    »Ja«, erwiderte ich. »Aber ich verstehe nicht, warum du nun Shemtovs Evangelium mit den griechischen und lateinischen Texten vergleichen willst, wenn du annimmst, es sei sehr viel näher am Urtext. Warum machst du dir so viel Arbeit?«
    »Weil ich den ursprünglichen Text rekonstruieren will. Weil ich Shemtovs Veränderungen erkennen und beseitigen will. Weil ich wissen will, was der Evangelist geschrieben hat. Und weil ich erfahren will, was Jeschua wirklich gelehrt hat …«
    »… um die Evangelien – wohlgemerkt: alle vier Evangelien! – nach der Rekonstruktion in der hebräischen Sprache ins Lateinische rückzuübersetzen, durch dein Buch Das verlorene Paradies zu kommentieren und anschließend deine Thesen vor dem Ende des Konzils mit dem Papst zu diskutieren. Diese Lebensaufgabe willst du in nur wenigen Monaten erledigen.«
    Ich ließ mich zurücksinken und lachte aus vollem Herzen.
    Er beugte sich über mich.
    »Warum lachst du?«, fragte er irritiert.
    »Weil das die Arbeit des Messias wäre. ›Elija wird kommen und die Welt retten‹, heißt es im Evangelium. Bist du der Messias?«
    Er verzog die Lippen. »Nein, Celestina, nur ein Mensch, der sich unsterblich in die Wahrheit verliebt hat. Ich glaube, du kennst dieses überwältigende Gefühl.«
    Ich nickte. »Ich glaube, dass uns diese Arbeit sehr viel Vergnügen bereiten wird.«
    »Warum?«
    »Weil wir viel voneinander lernen können – nicht nur griechische und hebräische Grammatik oder die Kunst, einen eintausendvierhundert Jahre alten Evangelientext auf hundert verschiedene Arten auszulegen: jüdisch und christlich … rabbinisch und humanistisch … theologisch und philosophisch … glaubend und zweifelnd … historisch oder mythologisch … allegorisch, sinngemäß oder wörtlich in Hebräisch, Griechisch und Lateinisch.«
    »Und was können wir noch lernen?«, fragte er ernst.
    »Uns selbst in den Augen des anderen zu sehen«, sagte ich leise.
    Stumm blickte

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