Die Evangelistin
»Lass ihn, Elija. Er wird sich beruhigen! Dann wird er zurückkommen.«
Entschlossen riss ich mich von David los, verließ das Haus und folgte Aron am Canal Grande entlang und über den Ponte di Rialto bis zu seinem Kontor am Rialtomarkt.
Das Tor war verschlossen.
Aron öffnete nicht auf mein Klopfen und meine eindringlichen Bitten, doch mit mir zu reden. Ich wartete noch eine Weile in der Gasse, aber vergeblich.
Ich machte mir die bittersten Vorwürfe. Mein Bruder wollte heiraten, und ich hatte bis jetzt nicht einmal den Namen der Frau gekannt, die er so sehr liebte, dass er alles für sie aufgeben wollte: seinen Beruf, seine Familie, seinen Namen und seinen Glauben. Am Grab unseres Vaters hatten David, Aron und ich uns geschworen, uns niemals zu trennen. Der Hass der Christen hatte uns all die Jahre zusammengeschweißt. Sollte unsere Liebe zu zwei Christinnen uns nun auseinander reißen?
Traurig kehrte ich nach Hause zurück – ich war nicht enttäuscht, weil er mir nicht geöffnet hatte, sondern weil er sich gar nicht im Kontor eingeschlossen hatte. Aron war zu Marietta geflohen und hatte mir damit die Versöhnung verwehrt.
Innerlich aufgewühlt hielt ich eine Stunde später den Morgengottesdienst in der Synagoge.
Immer wieder irrte mein Blick während der Psalmen und der Schriftlesung hoffnungsvoll zur Tür gegenüber der Kanzel, doch Aron kam nicht – weder zu seinem Bruder, noch zu seinem Rabbi.
Nach dem Gottesdienst, als die Gläubigen gegangen waren, blieb ich allein im Gebetssaal.
David hatte mich überreden wollen, Jakob zu besuchen, damit mein Freund mich auf andere Gedanken brachte, doch ich hatte meinen Bruder fortgeschickt. Im Buch Ijob wollte ich Trost finden: ›Der Herr hat gegeben, und der Herr hat genommen, der Name des Herrn sei gepriesen!‹ Aber auch Ijob konnte mich nicht besänftigen.
»Warum hast Du mir Aron und Celestina weggenommen?«, rief ich und verschonte Adonai nicht mit bitteren Vorwürfen. Und als ich keine Antwort erhielt, brüllte ich zornig mit weit ausgebreiteten Armen:
»Sprich mit mir, Vater! Sag mir, warum Du mir alles nimmst, was ich liebe! Sag mir, warum ich so viel leiden muss! Warum hast Du mich nicht auf dem Scheiterhaufen in Córdoba sterben lassen? Habe ich noch nicht genug Opfer gebracht? Was willst Du noch von mir? Was soll ich tun?«
Schweigen.
»Versteh mich nicht falsch, Vater! Ich will Deine Gerechtigkeit nicht infrage stellen. Aber nach all den Jahren der Verzweiflung und der Flucht bin ich nicht mehr so inspiriert wie am Anfang. Glaube nicht, dass ich an meiner Aufgabe verzweifele! Du hast mich berufen und weißt, wie ich gezweifelt und gelitten habe. Doch am Ende habe ich mich unterworfen: ›Dein Wille geschehe, nicht meiner!‹
Geduldig habe ich Deine harten Schläge ertragen: die zwei Jahre im Kerker der Inquisición, die Demütigungen durch Kardinal Cisneros, die Schmerzensschreie meiner Frau und meines Sohnes, die in der Zelle neben meiner gefoltert wurden, den Tod meiner Liebsten auf dem Scheiterhaufen, die Flucht aus Granada, die Trauer, die Zweifel, die Schuld, die Angst, den Schmerz und das Leiden.
Warum hast Du mich an jenem Karfreitag vor sechs Jahren nicht sterben lassen? Ich war bereit, mich zu opfern. Mit meinem Tod hätte ich Deinen Namen geheiligt. Welch ein Sieg wäre das gewesen!
Und was wäre David, Judith und Aron alles erspart geblieben! Es ist doch meine Schuld, dass wir aus Granada fliehen mussten. Du hast mich dazu verdammt, Vater! Du hast mich nicht nur zum Opfer gemacht, zum gescheiterten Märtyrer, sondern auch zum Täter! Welch entsetzliche Berufung!«
Gott schwieg beharrlich und ließ sich nicht herab, sich vor mir zu rechtfertigen.
»Noch heute wirst du mit mir im Paradies sein«, murmelte sie.
Ich saß am Schreibtisch und starrte gedankenverloren auf die zerrissenen Seiten meines Manuskriptes. Wie lange hatte sie mich von der offenen Tür aus beobachtet?
Sie hatte einen der Gedankenfetzen aufgehoben und vorgelesen. Die zerrissene Seite mit dem Zitat aus dem Lukas-Evangelium hielt sie noch in der Hand. »David sagte, ich würde dich hier finden.«
Sie legte den Prüfstein und die griechischen Evangelien, aus denen ein alter, brüchiger Papyrus hervorragte, auf den Tisch neben der Tür. Ich beobachtete sie, wie sie am Wandregal entlangging und ihre Hand über die Buchrücken strich: Salomon Ibn Gabirols Quelle des Lebens , Mosche ben Maimons Führer für die Verirrten , Saadia ben Josephs Gedanken über den
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