Die Evangelistin
zur Kirche dei Frari führt. Dann folgte ich den Rii und Canali um die Kirche herum, bis ich nicht mehr weiterkonnte: Der Kanal war durch Ketten versperrt! Ich sprang aus dem Boot und lief zu Tristans Haus an der Nordschleife des Canal Grande. Dort brach ich völlig erschöpft zusammen. Tristan hat einen Medicus gerufen, der sich um mich kümmerte. Am nächsten Morgen hat er mich zu einem Schiff gerudert, das nach Athen segeln sollte. Er hat mir das Leben gerettet.
Das Schiff legte im Morgengrauen ab. Während es die Lagune durchquerte, blickte ich zurück nach San Marco und schwor: ›Ich werde zurückkommen.‹
Tristan winkte mir vom Molo aus zu. Nun hatte ich auch noch meinen besten Freund verloren! Dann hatte das Schiff die Insel Santa Elena erreicht, und ich konnte ihn nicht mehr sehen. Wir segelten hinaus aufs offene Meer.
Tage später erreichte das Schiff den Hafen von Piräus, wo ich an Land ging. Ich hatte weder Geld noch Gepäck. Alles war verloren. Ich besaß nicht einmal eine Hand voll Münzen, um mir einen Esel oder ein Maultier zu mieten, um nach Athen zu gelangen. Die fünf Meilen bis zur Akropolis ging ich zu Fuß. Dann fragte ich mich zum Haus der Familie Iatros durch. Philippos, der Bruder meiner Mutter, nahm mich sehr herzlich auf. Er ließ mich in dem Palast wohnen, den meine Mutter mir hinterlassen hatte, versorgte mich mit Geld und stellte mir Diener zur Verfügung, damit ich einen eigenständigen Haushalt führen konnte. Damals kam Alexia zu mir. Sie hat mir sehr geholfen, über das, was in Venedig geschehen war, hinwegzukommen. Alexia beschützt mich noch heute. Sie ist mir eine Freundin geworden.
Denn Freunde hatte ich bitter nötig. Ich suchte Verbündete für meinen Rachefeldzug. In Athen war ich vor Antonio sicher. Meine Briefe konnte er nicht abfangen, und das Schreiben konnte er mir nicht verbieten. Ich wandte mich an die verstreute Nation der Humanisten, an Gianni, der damals Kardinal in Rom war, an den florentinischen Staatssekretär Niccolò Machiavelli in Florenz, an Baldassare Castiglione in Urbino, an Erasmus von Rotterdam in Cambridge und an viele einflussreiche Freunde meines Vaters in England, Frankreich, Deutschland und Italien.
Vielleicht hast du schon von meinen Briefen gehört, Elija? Ich verfasste Briefe an Jeanne d’Arc, an Helena von Sparta, um die der trojanische Krieg geführt wurde, an Kassandra, die nach der Eroberung von Troja zur Kriegsbeute des Königs Agamemnon wurde, an Penelope, die Gemahlin des Odysseus, an Königin Bilkis von Saba, die König Salomo ihre Rätselfragen stellte, an Königin Kleopatra von Ägypten, die dem mächtigen Rom zu trotzen versuchte, an die Päpstin Johanna und auch an die Jungfrau Maria. Jeder dieser Briefe endete mit den Worten: ›… ich aber bin frei!‹
Die Reaktionen der Humanisten waren überwältigend: so viel Bestürzung, so viel Bedauern für mein Schicksal, so viel Mitgefühl! Welcher Prophet gilt schon etwas im eigenen Land? Ein Humanist, geflohen aus seiner Heimat, ein Humanist im Exil, ein Humanist, der sich mit seinem Schicksal nicht abfinden wollte – das hatte etwas bewundernswert Heldenhaftes.
Ich war eine gelehrige Schülerin von Megas Alexandros. Ich wusste, was ich zu tun hatte. Und niemand konnte mich aufhalten. Alexandros hatte Kallisthenes, den Neffen seines Lehrers Aristoteles, als Historiker angestellt, damit er seine Geschichte aufschrieb. Wie er es wollte! Ich tat dasselbe. Ich erschuf mich selbst. Über Nacht war ich berühmt. Und ich erhob meine Stimme. Das Schweigen habe ich niemals gelernt, ebenso wenig wie das Aufgeben. Obwohl ich nicht nach Venedig zurückkehren konnte, hatte ich einen ersten Sieg über Antonio errungen: Mit seiner grausamen Tat hatte er das Gegenteil von dem erreicht, was er wollte – dass ich spurlos verschwand, als hätte ich niemals existiert.«
Ich schwieg einen Augenblick, dann fuhr ich fort:
»In Athen begann ich, mich mit der Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen auseinander zu setzen.
Jesus begegnete ich in der Moschee auf der Akropolis. Die Türken hatten nach der Eroberung von Athen aus der Kirche im Parthenon ein muslimisches Gotteshaus gemacht. Ich war erstaunt, als ich zwischen den Koranversen Jesus fand. Dort stand er felsenfest. Unzerstörbar. Unbesiegbar.
Damals begann ich, mich mit den Evangelien zu beschäftigen – nicht aus theologischem Blickwinkel, sondern aus philosophisch-ethischer Perspektive: Wer bin ich, und was kann ich tun? Was ist der
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