Die Evangelistin
Sinn des Leidens? Wie kann ich meine Feinde lieben? Wie kann ich denen vergeben, die mich zutiefst verletzt haben? Ist es nicht die größere Demütigung für Antonio, wenn ich ihm nicht Gleiches mit Gleichem vergelte und mich moralisch über ihn erhebe? Ich hörte auf, Dogmen nachzubeten , und begann, Ethik vorzudenken . Seit jener Zeit in Athen stehen die griechischen Evangelien noch vor Aristoteles’ Ethik in meinem Bücherregal.«
Ich schmiegte mich an Elija, legte meinen Kopf an seine Schulter. Er umarmte mich und hielt mich fest.
»Athen hatte eine großartige Vergangenheit, aber die Stadt bestand zum größten Teil aus Ruinen. Im Vergleich zu Venedig war Athen ein Dorf. Mir wurde es zu eng, daher beschloss ich zu reisen: nach Korinth, Sparta und Olympia.
Im Jahr darauf segelte ich nach Istanbul – und weiter nach Troja. Mit Homers Ilias wanderte ich die Küste entlang, doch die Ruinen von Troja fand ich nicht. Dann kehrte ich nach Athen zurück.
Einige Monate später reiste ich nach Alexandria. Ich wollte das Katharinenkloster im Sinai besuchen, um dort in der Bibliothek nach alten Schriften zu forschen und vielleicht ein verlorenes Evangelium zu entdecken.« Ich belächelte meine großartigen Pläne. »In Alexandria, wo ich mich einige Tage aufhielt, um die Expedition vorzubereiten, fand ich auf dem Sklavenmarkt Menandros. Er sprach mich auf Griechisch an und erzählte mir seine Geschichte: dass er aus Istanbul stamme und drei Sprachen spreche, dass er griechisch-orthodoxer Priester sei, dass er als Mönch in das berühmte Kloster von Athos hatte gehen wollen, aber von ägyptischen Piraten als Sklave nach Alexandria verschleppt worden war.«
»Menandros ist ein orthodoxer Priester?«, fragte Elija erstaunt.
»Er hat in Istanbul Theologie studiert und ist durch den Patriarchen selbst geweiht worden.
Ich kaufte Menandros frei und nahm ihn mit nach Kairo, wo ich die Pyramiden besuchte. Dann zogen wir auf Moses’ Spuren am Schilfmeer vorbei in Richtung Osten. Wir wurden von Ägyptern verfolgt wie damals Moses und sein Volk, aber uns gelang die Flucht. Nach langen Umwegen erreichten wir schließlich das Katharinenkloster am Fuß des Berges Sinai. Frauen war es nicht gestattet, das Kloster zu betreten, doch da Menandros orthodoxer Priester war, durfte er hinein – mit seiner Dienerin, die ja unmöglich allein vor den Mauern des Klosters nächtigen konnte. Der sittenstrenge Prior gab nach, und ein Korbaufzug wurde an einem Seil über die hohe Wehrmauer zu uns herabgelassen – das Katharinenkloster besitzt kein Tor.
Fünf Wochen blieben Menandros und ich im Kloster, lebten mit den Mönchen, nahmen an den orthodoxen Gottesdiensten teil, beteten in der Kapelle der Basilika, dem heiligen Ort, wo Gott Moses in einem brennenden Dornbusch erschienen war und ihm befahl, Sein Volk aus Ägypten herauszuführen. Den göttlichen Dornbusch gibt es nicht mehr. Aber ein Ableger wächst und gedeiht außerhalb der Kirche, im Hof hinter der Apsis. Jeder Versuch, einen weiteren Ableger in der Kapelle zu pflanzen, ist nach Aussage der Mönche bisher gescheitert.« Ich lächelte verschmitzt. »Bitte beachte den möglicherweise eschatologischen, also endzeitlichen Aspekt dieses Symbols: Der Dornbusch lässt sich nicht vermehren. Und er wächst außerhalb der Kirche!«
»Das ist mir nicht entgangen!«, lachte Elija.
»Ein paar Tage nach unserer Ankunft stieg ich mit Menandros auf den Djebel Musa, den Mosesberg, der steil über dem Kloster aufragt. Wir übernachteten auf dem Gipfel und genossen einen fantastischen Sonnenaufgang und einen großartigen Blick über die Berge und die Wüstentäler des Sinai. Dort, wo wir standen, hatte Moses von Gott die zehn Gebote empfangen. Welch bewegender Moment!«
»Ich beneide dich um diese Erfahrung, auf Mosches Spuren zu wandeln!«, gestand Elija mit leuchtenden Augen.
»Im Kloster wühlten wir uns in den nächsten Tagen durch die umfangreiche Bibliothek, die noch nie erforscht worden war. Es war großartig! Immer neue Schätze des Wissens fanden wir. Tagelang, nächtelang saßen wir in dieser bedeutenden Bibliothek mit Tausenden griechischen, syrischen, äthiopischen und armenischen Handschriften, die die Siegel von Kaisern, Königen, Sultanen, Päpsten und Patriarchen tragen. Wir schrieben uns die Finger wund, als wir möglichst viele der alten griechischen Texte kopierten, um sie mit nach Athen zu nehmen.
Und dann, am letzten Tag unseres Aufenthaltes, entdeckte ich einen ganz
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