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Die ewige Bibliothek

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Titel: Die ewige Bibliothek Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A. Owen
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»und das scheint beim studentischen Publikum gut anzukommen.«
    »In Wien?«, schnaubte Michael. »Keine zwanzig Meter entfernt von einem Dutzend der besten Bäckereien Europas?«
    »Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen«, sagte Obskuro, drehte einen Stuhl herum und setzte sich. »Als ich einmal in Portland war, besuchte ich einen Autor, dessen Hauptanspruch auf bleibende Berühmtheit in einem Comic-Heft bestand, aus dem man einen Kinohit mit einem dieser blonden Starlets gemacht hatte, die mehr aus Silikon zu bestehen scheinen als aus Fleisch und Blut, und diese Tatsache nur mit zwei Punkten und einem Strich verhüllen. In seinem Studio habe ich allerdings seine anderen, weniger bekannten Arbeiten gesehen: Geschichten und Bilder von bemerkenswerter Tiefe und Vielschichtigkeit, die zeigten, dass er ein Künstler mit großartigen und feinen Begabungen war. Ich habe ihn gefragt, wie jemand mit so offensichtlichem Talent so viel Zeit und Mühe darauf verschwenden konnte, Material auf niedrigstem Sex-und-Knarren-Niveau zu produzieren, wenn er sich doch bedeutenderen Werken widmen könnte. Er hat mich angeschaut, gelächelt und gesagt: ›Manchmal will man eben nur einen Schokoriegel.‹«
    Michael prustete lachend seinen Wodka Cola heraus. Galen blinzelte nur.
    »Hat Ihnen die Show bisher gefallen?«, fragte der Illusionist.
    »Um die Wahrheit zu sagen, wir sind beide ziemlich erstaunt über das, was wir gesehen haben«, sagte Michael aufrichtig. »Äußerst erstaunt.«
    »Wirklich?«, sagte Obskuro, mit einer Spur Überraschung, die echt zu sein schien. »Das verstehe ich nicht ganz – sie haben noch gar nicht gesehen, weswegen ich Sie eingeladen habe.«
    »Nun«, sagte Michael, »allein die Sache mit den Daumen war den Besuch wert, aber was mit dieser Frau passiert ist…«
    »Das hatte mit mir nur wenig zu tun«, wandte Obskuro bescheiden ein. »Ich habe nicht gesehen, was sie gesehen hat, und ich habe auch niemals ein Bein verloren. Ich habe sie heute Nacht kurz berührt, das stimmt – aber alle Magie, die auf dieser Bühne stattgefunden hat, ist mit ihr zur Tür hereingekommen.«
    »Sie meinen, für sie war es Magie«, sagte Galen. »Für uns kann es genauso gut eine Illusion gewesen sein.«
    Obskuro zog eine Augenbraue hoch und lächelte dann zufrieden. »Ich sehe, meine Schlussfolgerung ist Ihnen nicht entgangen, Professor. Wenn Sie den Rest des Abends genauso scharfsinnig bleiben, dann kann ich, glaube ich, garantieren, dass Sie Ihre Zeit hier nicht verschwenden. Ach, aber ich sehe, ich muss meinen Auftritt fortsetzen.« Auf ein Zeichen des missmutigen bärtigen Kellners hin stand er auf. »Wenn es den Herrn nichts ausmacht, etwas länger zu bleiben, würde ich mich nach der Vorstellung gern mit Ihnen unterhalten.«
    »Sicher«, sagte Galen. »Wir haben noch nicht über diese Angelegenheit von ›historischer Bedeutung‹ gesprochen, die Sie in Ihrer Einladung erwähnten.«
    »Seien Sie unbesorgt, verehrter Professor, das werden wir.«
    »Ich habe noch eine Frage, wenn Sie gestatten«, sagte Michael. »Warum ›Zen-Illusionist‹?«
    Obskuro sah ihn neugierig an. »Weil Illusionen manchmal das sind, was sie sind, und kein Maß an Zauberei kann diese Wahrheit verbergen.«
    »Wie der Fuß der Frau?«, fragte Michael und sah hinüber zu dem Tisch, an dem sie saß und sich bemühte, dem Illusionisten keine scheuen Blicke zuzuwerfen. »Was war da nun die Wahrheit? War es wirklich oder nicht?«
    »Ganz genau«, sagte Obskuro. Mit einer leichten Verbeugung wandte er sich um, stieg rasch die Stufen hoch und verschwand hinter dem Vorhang.
     

     
    Es wurde wieder dunkel. Als Obskuro dieses Mal auf der Bühne erschien, saß er auf einem einfachen Holzstuhl. »Alles, was es auf der Welt gibt, ist Berührung und Deutung. Leider setzt echte Berührung wahre Hingabe voraus, und ein ungeheures Maß an Zeit für diejenigen unter uns, denen nur eine begrenzte Lebenszeit bestimmt ist.« Als der Illusionist dies sagte, hatte Michael das seltsame Gefühl, dass er es absichtsvoll betonte und es ebenso absichtlich vermied, sie dabei anzusehen. »So muss denn der Rest der Menschheit sich mit den flüchtigeren Möglichkeiten der Deutung zufrieden geben und kann nur hin und wieder von einer wirklichen Berührung zehren, wie ein Stein, der über die Oberfläche eines Sees hüpft. Doch Deutung hat einen Vorteil – ihre Macht ist vielfältig und kann viele Menschen gleichzeitig beeinflussen. Und jeder von Ihnen kann die Berührung

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