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Die ewige Bibliothek

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Titel: Die ewige Bibliothek Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A. Owen
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er die Augenbrauen zusammen und bewegte seine Hand weiter hinab zu ihrem Schienbein, ihrem Knöchel, dann zu ihrem Fuß – und plötzlich leuchtete ein Funke in seinen Augen auf und er bedachte sie mit einem strahlenden Lächeln.
    »Ihr Fuß und Ihre Zehen, um genau zu sein. Das ist es, was Ihnen fehlt, nicht wahr?« Er flüsterte leise, doch so eindringlich, dass man ihn überall im Club, in dem es so still war, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören, deutlich verstehen konnte. »Durch das Gras im Wienerwald zu laufen, zu den Wasserfällen – das war das Gefühl, das Sie am meisten vermissen, seit Sie Ihr Bein verloren haben, nicht wahr?«
    Sie nickte. Tränen liefen ihr über das Gesicht. »Ja«, flüsterte sie. »Als ich klein war, nahm mich mein Vater immer auf lange Waldspaziergänge mit und nachdem ich bei dem Unfall mein Bein verloren habe…«
    »Ganz ruhig«, wisperte der Illusionist. »Konzentrieren Sie sich. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit nur auf mich. Ich möchte, dass Sie mir jetzt gut zuhören. Ich kann Ihnen Ihr Bein nicht zurückgeben. Aber ich kann Ihnen helfen, das wiederzuerlangen, was Sie am meisten vermissen. Das kann ich tun, weil Berührung stärker ist als Deutung und niemals wirklich verlorengeht. Vertrauen Sie mir? Werden Sie mir vertrauen?«
    Ein Nicken. Ein Zögern. Dann ein erneutes Nicken, dieses Mal entschlossener.
    Obskuro lächelte zustimmend, schloss dann seine Augen und ließ den Kopf auf die Brust sinken. Einen Augenblick lang schien es, als sei nichts geschehen. Plötzlich öffneten sich die Augen der Frau weit, und sie sprang vom Stuhl auf. Der Illusionist trat mit schweißgebadetem Gesicht aus dem Rampenlicht und sah zu.
    Sie stand zitternd da und schaute ungläubig auf ihre Füße hinunter. Im Publikum hatte sich ein Murmeln ausgebreitet, denn niemand hatte eine Ahnung, was auf der Bühne vor sich ging, oder ob überhaupt irgendetwas geschehen war. Da streifte die Frau ihre Schuhe ab, zog die Hosenaufschläge hoch und enthüllte zwei gesunde menschliche Füße mit zehn beweglichen Zehen.
    »Ach, das ist Schwindel!«, sagte der untersetzte Mann vor der Bühne laut. »Sie steckt mit ihm unter einer Decke. Woher sollen wir wissen, dass sie jemals ein künstliches Bein gehabt hat?«
    Als Antwort darauf zog die Frau wie in Trance ihre Hosenbeine weiter hoch und enthüllte rosa Fleisch auf der linken Seite…
    … und auf der rechten, direkt über dem Knöchel, poliertes, glänzendes Walnussholz.
    Sie setzte sich unbekümmert auf den Stuhl und zerstreute weitere Betrugsvorwürfe, indem sie ihre Hose auszog: erst das linke Bein, dann das rechte. Schließlich stand sie entblößt da, eine tränenüberströmte Venus, vor aller Augen wiedergeboren. Auf der rechten Seite, unterhalb des Spitzenbesatzes ihres Höschens, befand sich etwas, das aussah wie ein Strumpfhalter aus der Eisenzeit, der eine schwere hölzerne Prothese hielt. Das dunkle Holz war hier und da von glänzenden Metallscharnieren durchbrochen, die für die Beweglichkeit von Knie und Knöchel sorgten. Aber unterhalb dieser Konstruktion befand sich lebendiges Fleisch.
    Obskuro blieb im Schatten und beobachtete schweigend die Reaktion seines Publikums. Vor allem beobachtete er seine beiden geladenen Gäste, die jedoch – wie jeder andere im Raum – zu verblüfft waren, um das zu bemerken.
    »Erstaunlich«, stotterte Michael.
    »Es könnte eine Art Hohlform sein«, sagte Galen. »Ich wüsste zwar nicht wie, aber…«
    Ein ähnlicher Gedanken fing an, im Raum die Runde zu machen, doch kein anderer hatte ihn bisher ausgesprochen, als die Frau im Stehen nach unten griff, das Geschirr aufschnallte…
    … und ihr Bein abnahm.
    Daraufhin trat Obskuro vor und half ihr, zum Stuhl zurückzuhüpfen. Sie hielt das Bein wie ein Kind an sich gedrückt, und er legte erneut eine Hand auf das glatte Holz und die andere auf ihre Brust.
    »Schließen Sie die Augen«, sagte Obskuro, »und denken Sie an die Wälder, durch die Sie als Kind gelaufen sind. Das ist keine erfundene Geschichte und kein Märchen – Sie waren dort und Sie haben das Gras gespürt, taunass und scharfkantig zwischen Ihren Zehen; das Rascheln von gefallenem Laub, das sich noch nicht verfärbt hat.«
    Während er sprach, bogen sich die Zehen am unteren Ende des Beines langsam nach innen, streckten und rollten sich ab, als wanderten sie einen unsichtbaren Pfad entlang. Obskuros Augen zuckten kurz nach unten, dann beugte er sich weiter vor und flüsterte in einer

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