Die ewige Bibliothek
Illusionisten, die allesamt Wodka Cola tranken, Schokoriegel aßen und im Übrigen ein äußerst dankbares Publikum abgaben.
Schließlich war der letzte Gegenstand zurückgegeben, der letzte Obskuro verwandelt, und über den Raum legte sich eine erwartungsvolle Stille. Die Vier, die vom ursprünglichen Publikum übrig blieben, saßen wie festgenagelt da, und verspürten mehr als nur ein wenig Beklommenheit und einen Hauch Furcht. Der Illusionist auf der Bühne sah sich um; Anstrengung begann sich auf seinem Gesicht abzuzeichnen. »Äußerst interessant«, sagte er leise, als er den Raum musterte.
»Hier gibt es so viel, was ich für Deutung gehalten hatte und was stattdessen Berührung war. Schauen Sie sich um, Sie Vier – was haben Sie heute Abend gesehen?«
»Ich habe ein Wunder gesehen«, sagte die Frau mit dem Holzbein, »und einen Teil von mir, von dem ich nicht wusste, dass es ihn noch gab.«
»Ich weiß nicht, was ich gesehen habe«, gab der untersetzte Mann aufrichtig zu.
»Nun ja«, sagte Michael, »ich glaube, ich habe den Unterschied zwischen Illusion und Zauberei gesehen.«
»Ich sehe«, sagte Galen und betonte die Gegenwartsform, während er sich im Raum umblickte, »einen Zen-Illusionisten.«
»Wohl gesprochen«, sagte Obskuro. »Und dies ist das Ende unserer Show.« Mit einer Drehung seiner Hand setzte er den Hut auf und einen Augenblick später gingen die Lichter fast vollständig aus. Als sie einige Sekunden später wieder flackernd aufleuchteten, waren alle Personen, alle Kopien von Obskuro verschwunden. Michael, Galen, die Frau und der Mann saßen allein inmitten von zwanzig leeren Tischen.
Die Lichter gingen ein zweites Mal aus, leuchteten dann auf und alles war wieder wie vorher – ein Raum voller Menschen, die aßen, tranken und sich nach Kräften bemühten, Gefallen an einer Vorstellung zu finden, die zugleich verwirrend und Furcht einflößend gewesen war.
Michael und Galen sahen einander mit sprachloser Erschütterung an. Bevor einer von beiden etwas sagen konnte, wurde der Scheinwerfer ein weiteres Mal auf die Mitte der Vorhänge gerichtet, und die inzwischen vertrauten Hände des Illusionisten, die den Hut hielten, erschienen erneut. »Ah«, ließ sich die sanfte Stimme vernehmen, »wir sind noch nicht ganz am Ende, oder? Jede gute Vorstellung verlangt nach einer Zugabe, und ich glaube, das war ein Abend, wie er sich so bald nicht wiederholen wird.«
Die Vorhänge teilten sich, Obskuro trat auf die Bühne und stieg eine der Treppen hinunter. Mit dem Hut auf dem Kopf schlängelte er sich an den Tischen vorbei direkt auf die Frau in der Ecke zu, die tapfer lächelte, allerdings auch sichtlich zitterte. Der Illusionist erwiderte ihr Lächeln und blickte ihr in die Augen. Dann legte er ihr erneut die Hände auf Brust und Bein – doch anstatt zarte Muster nachzuzeichnen, packte er ihr Bein diesmal mit einer Heftigkeit und einem Druck, dass seine Zähne knirschten und die Sehnen auf seinem Unterarm hervortraten. Sie schrie auf und ein jähes splitterndes Geräusch war zu hören. Die anderen Gäste am Tisch rutschten tiefer in ihre Sitze, und Galen und Michael wollten ihr gerade zu Hilfe eilen, als ihr ängstliches Kreischen sich in einen Schrei der Überraschung und Freude verwandelte.
Obskuro trat zurück und sank gegen die Wand. Die Frau sprang auf die Füße – und beide waren echt. Ihr rechter Fuß war blass und rosa, und deutlich schmaler als der linke, aber er bestand aus Fleisch. Zögernd bewegte sie sich Schritt für Schritt von den Holzspänen und Splittern weg, die sich im Sägemehl um ihren Tisch herum aufhäuften, taumelnd vor Schreck und Ungläubigkeit. Sie sah Obskuro mit tränenerfüllten Augen an und humpelte aus dem Raum, während er ihre unausgesprochene Dankbarkeit mit einem Nicken quittierte.
Wortlos nahm er den Hut ab und trat zu dem Mann, der ihn während der Vorstellung mit Zwischenrufen gestört hatte. Als Obskuro näher kam, stand dieser auf, und der Illusionist musterte ihn von oben bis unten. Obskuro hob eine Augenbraue – eine direkte Frage, und der größere Mann nickte, während er sich auf die Unterlippe biss und seinen Hut in der Hand drehte.
Michael reckte seinen Hals und betrachtete den großen Mann sorgfältig – warum kam er ihm so bekannt vor? Michael war sich sicher, dass er ihm schon einmal begegnet war. Es konnte jedoch kein wichtiger Anlass gewesen sein, sonst würde er sich besser an ihn erinnern. Er gab es schließlich auf –
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