Die ewige Bibliothek
auf seine Weise erleben, sei es einfach als unterhaltsamer Abend, oder« – er zwinkerte in Richtung eines der Tische im linken hinteren Teil des Raumes – »als Spaziergang im Wienerwald.«
Obskuro hielt inne. Dann beugte er sich mit funkelnden Augen vor, so dass das Scheinwerferlicht einen schwachen Schatten über seine Gesichtszüge warf.
»Illusionen werden gebildet«, fuhr er mit nebelfeiner Stimme fort, »wenn eine Wirklichkeit auf besondere Weise zur Deutung dargeboten wird.« Während er sprach, hob sein Stuhl schlingernd von der Bühne ab und entfernte sich mehrere Zentimeter weit vom Boden. »Doch sollte nur eine – irgendeine – der Deutungen, die Wirklichkeit als das erkennen, was sie ist, dann bricht die Illusion zusammen.«
Der Stuhl stieg höher und höher. Plötzlich wurde die Stille vom rauen, wiehernden Lachen des untersetzten Mannes in der vorderen Reihe durchbrochen, der mit dem Finger auf die Bühne zeigte. »Hahaha! Eine Stange! Der Stuhl wird von einer verdammten Stange gehalten!«
Wie auf ein Stichwort wurden die Lichter einen Moment lang heller und enthüllten eine breite, samtschwarze Stange, die an der Rückseite des immer noch höher steigenden Stuhls befestigt war. Durch die Vorhänge konnte man kurz einen Blick auf eine elektrische Winde werfen, die leise surrend die Illusion erzeugte.
Der Mann lachte. »Ich wusste es. Ich wusste, dass er nicht…«
Er hörte auf zu lachen, denn der Stuhl hatte angehalten – und begann sich langsam zu drehen. Sekunden später hatte er eine Drehung um hundertachtzig Grad vollführt und der Illusionist stand nunmehr auf dem Kopf. Obskuro sprach weiter, als habe niemand etwas gesagt.
»Dieser Augenblick der Deutung ist es auch, in dem Magie geschehen kann. Denn wenn eine Deutung stark genug ist, kann sie ihre eigene Wirklichkeit erzeugen – und das sind die Augenblicke, in denen Welten erschaffen werden.«
Während er sprach, stand Obskuro von dem Stuhl auf und schlenderte lässig über dem Publikum die Decke entlang.
Unter dem Staunen und entzückten Flüstern des Publikums folgte der Illusionist dem unregelmäßigen Pfad, der von den Lichtern gebildet wurde, und hielt nur hin und wieder inne, um glitzernden Staub von einer der Glaskugeln zu pusten, die direkt unterhalb seines Kopfes hingen.
»Weiß irgendjemand von Ihnen, was er sieht? Kann mir jemand sagen, dass ich nicht an der Decke laufe?«
»Sie laufen nicht an der Decke«, sagte Galen scherzhaft.
»Nicht?«, sagte Obskuro mit gespielter Überraschung. »Nun gut – ich laufe nicht an der Decke.« Er verbeugte sich tief und einen knappen Herzschlag später stellte sich der gesamte Raum auf den Kopf.
Einige Frauen – und mehr Männer, als es später zugeben würden – schrien auf. Schmuck und Brillen fielen aus offenen Taschen zur Decke hinunter, und die meisten Leute im Publikum klammerten sich verzweifelt an ihre Tische, in dem Bemühen nicht hinunterzufallen, während der Illusionist mit einer Spur Belustigung in seinen Augen zu ihnen aufblickte.
Michael, dem ein wenig schwindlig war, versuchte, sich nicht zu übergeben und starrte auf den Fußboden über seinem Stuhl. »Hee«, sagte er und kaute auf seiner Lippe. »Was hält eigentlich die Stühle unten? Ich meine, oben?«
Galen antwortete ihm gelassen, »Sie bleiben, wo sie sind, weil er an der Decke läuft. Seine Deutung ist die stärkste.«
»Das ist richtig«, sagte Obskuro. »Meine Deutung, und also auch meine Magie.«
Er schnipste mit den Fingern und der Raum kam wieder ins Lot. Die noch immer schwankenden Gäste ließen auf der Suche nach dem Illusionisten ihre Blicke über die Decke wandern, die sich nun wieder an ihrem Platz befand. Obskuro saß bereits auf dem Stuhl in der Mitte der Bühne.
»Und jetzt«, fuhr er mit offenen Armen fort, »möchte ich für meine letzte Illusion um ein paar Freiwillige bitten – sie sollen nicht daran teilnehmen, sondern etwas beisteuern.«
Er griff über seinen Kopf in die Luft und zog einen Zylinder hervor, der so abgetragen war, als habe er schon auf Lincolns Kopf gesessen. Der Illusionist drehte ihn um und blies über seinen Deckel, was etwas Staub aufwirbelte.
»Verzeihen Sie«, sagte er mit einem herzlichen Lächeln, »dieser Hut hat in letzter Zeit nicht viel Verwendung gefunden – jedenfalls keine angemessene Verwendung. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Dinge, die aus einem Hut herauskommen, oft interessanter sind – oder zumindest aufschlussreicher –
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