Die ewige Bibliothek
sie herum dämmerte ein Wiener Morgen, der sogar für vier Uhr früh seltsam gedämpft und ruhig wirkte. Und vor sich hofften sie, irgendeinen Zufluchtsort zu finden – obwohl keiner von ihnen sicher war, wohin ihre Flucht letztendlich führen würde.
Michael ließ seinen Blick über die Büsche schweifen und ihm rutschte das Herz in die Hose. Die Beleuchtung im Park war so hell, dass sie einer Entdeckung wahrscheinlich nicht einmal für kurze Zeit würden entgehen können – besonders wenn man die Anzahl ihrer Verfolger bedachte.
In der Ferne konnten sie sehen, wie sich die heulende Gruppe teilte. Viele von ihnen liefen in Richtung der Ringstraße – was bedeutete, dass sie sich nicht in unmittelbarer Gefahr befanden, aber ebenso von jeder möglichen Zuflucht oder Hilfe abgeschnitten waren, die sie in der Universität hätten finden können.
»Michael?«, flüsterte Juda fragend.
»Hier entlang«, sagte er und lief los.
»Gütiger Gott«, schnaubte Galen, der sie gerade erst eingeholt hatte.
Michael rannte in Richtung Osten, am Burgtheater vorbei, in die blühenden Rosengärten des Volksgartens hinein. Hinter sich vernahmen sie ein Heulen, als die Menschenmenge, die sie verfolgte, den Rathauspark erreichte.
»Wo zum Teufel führen Sie uns hin, Langbein?«, krächzte Galen.
»Dort hinüber«, sagte Michael und zeigte auf den Platz, der vor ihnen lag. »Ich habe eine Idee.«
Michael, der immer noch so schnell lief, dass er die anderen in seinem Kielwasser zurückzulassen drohte, erinnerte sich an eine Fabel, die ihm ein Belgier einmal erzählt hatte: Es bedarf einer Möhre und eines Stocks, um ein Maultier zur Eile anzutreiben, und man muss beides benutzen, weil man ebenso wie das Maultier nie wissen wird, welches von beiden Dingen es schließlich in Bewegung setzt.
Er blickte zurück zu dem jungen Mathematiker, der ohne große Mühe Schritt hielt, und dem Musiker, der sich abmühte, nicht zurückzufallen, und fragte sich, was sie zum Laufen brachte. War es die Möhre – das rätselhafte Manuskript, das Juda fest unter seinen Arm geklemmt hielt? Oder war es der metaphorische Stock, der die Straße hinter ihnen entlangraste und Schaden an Leib und Leben in Aussicht stellte?
Das Trio lief an den Rosenbüschen entlang und bewegte sich direkt auf Michaels Ziel zu – auf den Hofburg-Komplex, den früheren Kaiserpalast der Habsburger. Galen warf Juda einen neugierigen Blick zu. Juda zuckte mit den Schultern und behielt sein Tempo bei. Sie liefen an den hoch aufragenden barocken Gebäuden vorbei, bis sie den Eingang zur Nationalbibliothek erreicht hatten, wo Michael in seinen Taschen nach einem Schlüssel kramte.
Galen lehnte sich keuchend an den Torbogen neben der Pforte und sah ihm verwundert zu. »Sie haben einen Schlüssel zur Nationalbibliothek? Wie um alles in der Welt sind Sie da rangekommen?«
Michael grinste. »Ich habe meine Quellen.« Er öffnete das Schloss und stieß mit einem eleganten Schwung die Türflügel auf.
Sie stürzten gemeinsam hindurch und schlossen die Tür. Gerade noch rechtzeitig. Sekunden später schwärmten einige Dutzend trepannierte Studenten über den Platz.
»Lassen Sie uns tiefer hineingehen, solange wir noch können«, sagte Juda.
Sie schritten durch die verdunkelten Räume und Michael führte sie in den Augustinerlesesaal, wo er eine Tischlampe einschaltete.
»Also«, sagte Juda, »falls Sie mich beeindrucken wollten, dann würde ich sagen: Es ist Ihnen gelungen.«
Der Augustinerlesesaal war 1906 eröffnet worden, und ihm lag ein einfacher Plan zugrunde – einen Lesesaal zu entwerfen und zu bauen, dessen Atmosphäre dem Inhalt der Bibliothek gerecht wurde. Und da die Bibliothek kaiserliche und wissenschaftliche Sammlungen von 1368 an enthielt, darunter ägyptische Papyri, die berühmte Wenzelsbibel und das Stundenbuch der Maria von Burgund, war das keine geringe Herausforderung.
Allerdings liebten die Wiener Herausforderungen, und das Ergebnis war der irrwitzigste barocke Lesesaal Europas: ganz in dunklem Holz und mit aufwändigen Mustern – Schnörkel über Schnörkel, Kurven über Kurven, und ins Endlose verlaufende symmetrische Muster. Möglicherweise war es der einzige Saal in Österreich, in dem ein illuminiertes Manuskript der Gutenberg Bibel nicht aufgefallen wäre.
Michael strahlte angesichts des Gesichtsausdrucks seiner Gefährten. »Ich komme gern hierher, um mich zu entspannen«, sagte er selbstgefällig. »Und jetzt, wo wir hier sind, kann ich mir
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