Die ewige Bibliothek
keinen angemesseneren Ort vorstellen, um die Edda aufzubewahren.«
»Sie haben völlig Recht«, sagte Juda und reichte ihm das Paket. »Das wäre ein äußerst passender Ort – jedenfalls wenn wir nicht gerade um unser Leben laufen würden.«
»Wir sollten hier für eine Weile sicher sein«, sagte Michael und legte das Manuskript auf einen der breiten Tische. »Zumindest so lange, bis wir entschieden haben, was wir tun wollen.«
Galen ließ sich auf einen Stuhl fallen und starrte Juda zornig an. »Was geht hier vor, Juda? Dieser Mann auf der Straße war derselbe, den Sie bei ihrer Vorführung… aufgespießt haben. Jetzt heult er auf einmal wie ein Gespenst, und Hunderte von Studenten haben sich ihm angeschlossen und sind offenbar darauf aus, uns in Stücke zu reißen. Gibt es irgendetwas, das Sie uns zu sagen haben?«
»Sicher«, sagte Juda. »Schuldig gemäß der Anklage.«
Galen und Michael sahen einander an und blickten dann beide zu Juda hinüber, der eine mit Schnitzereien versehene Holzplakette begutachtete, die auf eine andere geschnitzte Plakette aufgesetzt war. Er spürte ihre herausfordernden Blicke und wandte den Kopf, die Augenbrauen überrascht hochgezogen. »Was? Haben Sie niemals außerhalb Ihres Fachgebietes Forschung betrieben?«
»Forschung?«, zischte Galen. »Sie haben Löcher in die Köpfe von Studenten gebohrt! Ist das überhaupt legal?«
»Ja«, sagte Juda, »wenn sie ihr Einverständnis freiwillig geben.«
»Treten Sie frei und freiwillig herein«, zitierte Michael ironisch.
»Glauben Sie etwa, ich sei so eine Art umgekehrter Vampir?«, fragte Juda gereizt. »Das waren legitime Experimente. Ich…«
Bevor er weitersprechen konnte, gingen die Lichter aus. Am Ende der langen Halle hämmerte jemand gegen die Tür, und einen Augenblick später zerriss ein Heulen die Stille der Bibliothek.
»Ich glaube, unsere Pause ist vorbei, meine Herren«, sagte Juda. »Michael?«
»Folgen Sie mir«, sagte Michael. »Ich glaube, hier kommen wir hinaus.«
Die Drei ertasteten sich im Dunkeln ihren Weg und rannten weiter, während ein splitterndes Geräusch das Eindringen der Studenten in den Komplex ankündigte. Als sie den Ausgang gefunden hatten, suchte Michael das Gelände nach Eindringlingen ab. Da die Luft rein war, führte er die anderen aus der Bibliothek hinaus, zu der kleineren Gruppe von Gebäuden rund um den Burggarten.
»Was meinen Sie?«, flüsterte er. »Ich kann mich nicht entscheiden.«
»Hier hinein«, sagte Juda und brach das Schloss eines Gebäudes auf, das ringsherum aus geschwungenen Glasflächen bestand. »Schnell – ich höre sie kommen.«
Galen und Michael folgten Juda in einen großen Raum voller Pflanzen. Das schwache Leuchten der Gartenlaternen fiel durch das Glas und ein seltsam summender Laut war zu hören, wie das leise Geräusch einer Neonlampe.
»Wo sind wir?«, fragte Galen.
»Hier«, sagte Michael und tastete die Wände ab, »vielleicht hilft das.«
Er legte einen Schalter um, und ein Dutzend Glaskugeln erwachten zu glühendem Leben. Ebenso abrupt wurde das Summen zu einer Kakophonie von Flügelschlägen, als Tausende von Schmetterlingen den jähen elektrischen Tagesanbruch mit einem schwärmenden Wirbelwind begrüßten.
Sie befanden sich im berühmten Schmetterlingshaus des ehemaligen kaiserlichen Privatgartens, und der plötzliche Wechsel von Schwärze zu Licht und explodierenden Farben war atemberaubend. Wirbel flatternder Wesen, die nicht größer waren als Michaels Daumen, strömten an seinem Gesicht vorbei, und ein riesiger Nachtfalter ließ sich auf Judas Kopf nieder. Ein Schwarm Monarchfalter drohte Galen einzuhüllen. Überall um sie herum bewegten sich die Pflanzen vor Leben, das ihnen von summenden Insekten verliehen wurde. Es war ein außergewöhnlicher Anblick.
»Schön, nicht wahr?«, sagte Michael und hielt seinen Finger einem Kometenfalter hin. »Haben Sie so etwas schon einmal gesehen?«
»Ja, ja, es ist wunderschön«, sagte Juda, nicht einmal ungeduldig. »Aber mir wäre es wirklich lieber gewesen, Sie hätten die Lichter nicht eingeschaltet.«
Daraufhin erloschen die Lichter plötzlich und das Schwirren der Schmetterlinge verstummte. Michael biss sich auf die Lippe und bemerkte, dass es dunkler war als bei ihrem Eintreten.
»Das Schicksal hat uns eingeholt«, sagte Galen. »Schauen Sie nach oben.«
Anstelle des sanften Leuchtens der Gartenlaternen, das durch die Fenster hereingefallen war, herrschte jetzt schauderhafte Schwärze.
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