Die ewige Bibliothek
hatte sich unwiderruflich verändert. Vor dem Unfall war er ein geachteter, verlässlicher, freundlicher und fähiger Mann gewesen. Danach wurde er vulgär, ungesellig, missmutig, unanständig und ein furchtbarer Lügner.«
»Ohne den Vergleich in Frage stellen zu wollen«, sagte Michael, »aber wenn ich einen solchen Unfall gehabt hätte, wäre ich, glaube ich, auch etwas durcheinander.«
»Das war zu erwarten«, antwortete Juda, »aber in Gages Fall schien es sich um eine völlige Abtrennung derjenigen Teile seines Gehirns zu handeln, die für Moral und Ethik zuständig sind.«
»Ich fange an, mit Zuständen dieser Art vertraut zu werden«, sagte Galen rau. »Was hat das mit Trepanation zu tun?«
»Nun, Trepanation ist nur eine exaktere Form dessen, was Gage passiert ist«, erklärte Juda. »Trepanation endet im allgemeinen vor dem Eindringen in das Gehirn. Aber ich habe das schon immer für ein wenig inkonsequent gehalten und für nicht so effektiv, als stoße man tatsächlich in einen Gehirnlappen vor.«
»Wo haben Sie diese Verfahrensweise gelernt?«, fragte Michael. »In Meru?«
»Ja – die Us konnten das besonders gut. Melvin ließ sie die ganze Zeit an sich üben.«
»Und welchen Grund hatten Sie, das einer Gruppe ihrer eigenen Studenten anzutun?« Galen kochte. »Haben Sie versucht, sie in übellaunige Lügner zu verwandeln?«
Juda ignorierte die spitze Bemerkung und fuhr fort. »Es gab noch einen weiteren Aspekt von Gages Verwandlung, der weithin unbekannt blieb. Etwa drei Jahre nach seinem Unfall verschwand Gage für einige Tage. Er wurde etwa zehn Kilometer außerhalb von Moab in Utah entdeckt, wo er eine große Grube ausgehoben hatte. Als man ihn mehrere Wochen später dazu befragte, behauptete er, er wollte sich nach China durchgraben.«
»Warum dauerte es mehrere Wochen, bevor man ihn befragt hat?«, wollte Michael wissen.
»Weil er«, sagte Juda, »plötzlich in einer Sprache redete, die niemand verstand. Und nur der glückliche Umstand, dass man einem durchreisenden Hopi-Indianer begegnete, führte dazu, dass man sich an einer Übersetzung versuchen konnte.«
»Er sprach Hopi?«
»Nein – er sprach Anasazi«, sagte Juda. »Eine Sprache, die nicht mehr im Gebrauch ist, weil die letzten Menschen, die sie gesprochen haben, vor mehr als sechshundert Jahren verschwunden sind.«
»Anasazi?«, fragte Galen verwirrt. »Ich fürchte, ich kenne den Stamm nicht.«
»Das ist nicht verwunderlich«, sagte Juda. »Nehmen Sie es mir nicht übel«, fügte er schnell hinzu, als ein finsterer Blick über Galens Gesichtszüge huschte. »Es gibt nicht viele, die sie kennen. ›Anasazi‹ ist eigentlich ein Navajo-Wort und bedeutet ›Die Ältesten‹. Ihre Kultur entstand vermutlich um 6000 v. Chr. und war für eine indianische Kultur auf einen erstaunlich festen Umkreis begrenzt. Sie fischten, betrieben Landwirtschaft, erfanden Kanalsysteme, malten Bilder auf Felsen und bauten äußerst zivilisierte Siedlungen. Um 1300 nach unserer Zeitrechnung lösten sie sich in Luft auf. Sie sind einfach vom Angesicht der Erde verschwunden.«
»Kein Wunder, dass Sie das interessiert«, sagte Galen. »Sie scheinen mit dem Verschwinden ja einige Erfahrung zu haben.«
»Ein wenig«, gestand Juda.
»Was hat das mit Trepanation zu tun?«, drängte Michael.
»Im Großen und Ganzen ist das nur eine Theorie«, sagte Juda, »aber Tiefen-Trepanation förderte bei Melvin die Fähigkeit, Buchstabenformen verschiedener seltener Sprachen nachzuahmen – die er schließlich alle auswendig konnte.«
»Also gut.« Michael blickte zum Fahrer des Busses, als dieser in die Haltestelle am Stephansdom einschwenkte. »Allerdings könnte das auch genauso gut damit erklärt werden, dass er ein außerordentlich visuelles Gedächtnis besaß.«
»Vielleicht«, sagte Juda und erhob sich, um den Bus zu verlassen, »aber das würde nicht erklären, wie es Melvin gelang, sich spezielle Buchstabenformen anzueignen, bevor er jemals ein Manuskript in der entsprechenden Sprache gesehen hatte.«
»Nun denn «, sagte Michael, als sie die Allee zum Dom überquerten. »Sie haben also versucht, in Ihren Studenten eine unterbewusste Sprachbegabung zu Tage zu fördern?«
»Etwas in der Art«, sagte Juda und nickte. »Ausgehend von Gage, jemandem, der niemals etwas anderes als Englisch gelernt hatte, kam ich zu dem Schluss, dass die Fähigkeit genetisch bedingt sein musste – etwas, das mit Volksgedächtnis vergleichbar ist. Ich schloss außerdem, dass
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