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Die ewige Bibliothek

Die ewige Bibliothek

Titel: Die ewige Bibliothek Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A. Owen
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ersten Zeilen weisen darauf hin, dass es sich um etwas mit dem Titel Das Buch des Alberich handelt. Verstehen Sie, was das sein könnte? Kein Epos, keine mythologisierte Geschichte. Das hier könnte eine Aufzeichnung über den wahren Vater von Hagen sein, vielleicht nur ein oder zwei Generationen nach seinem Tod niedergeschrieben – der tatsächliche Ausgangspunkt all dessen, wovon die Prosa-Edda, das Nibelungenlied und… Wagners Ring berichten.«
    Er holte Luft, um fortzufahren, hielt dann jedoch inne, stand auf und sah aus dem Fenster.
    »Michael?«, fragte Juda, »was ist los?«
    Wortlos legte Michael den immer noch tropfenden Pergamentbogen zwischen die Seiten einer Neuen Jerusalemer Bibel und stellte das Buch in ein überfülltes Regal. Dann ging er langsam um das Sofa herum und schaltete die Stehlampe aus. Er winkte die beiden an die offenen Fenster und wies mit einem Kopfnicken auf die Straße hinaus. »Wir haben Gesellschaft.«
    Einige hundert Männer und Frauen jeder Größe und Gestalt drängten sich auf dem Gehsteig und der Straße vor dem Gebäude. Sie standen reglos da und alle paar Sekunden schlossen sich am Rand weitere der Menschenmenge an. Die meisten der stummen Gestalten trugen einen Verband um die Stirn, und auf vielen davon konnte Michael sogar im schwachen Licht der Straßenlaternen die dunklen Flecken von Blut erkennen, das in den Stoff gesickert war. Ihre Atembewegung ließ die Menge leicht hin- und herwiegen. Sie wirkten gespenstisch, wie sie dort standen, als hätte ein Zug blutender Kriegsheimkehrer sein eigentliches Ziel aus dem Auge verloren und wartete auf neue Befehle.
    Bis auf den letzten Mann starrten sie zu Michaels Fenster hinauf.
    »Glauben Sie, das sind Fans von Ihnen?«, fragte Michael ironisch und sah dabei Juda an.
    »Warum fragen Sie?«
    Michael wies mit dem Kopf auf die vordere Reihe der Gruppe. »Weil diesem Kerl fünfzig Zentimeter Eisen aus dem Kopf ragten, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, und Sie waren derjenige, der ihm das verpasst hatte.«
    Es war der untersetzte Zwischenrufer aus dem Nachtclub. Sein Kopf war auf ähnliche Weise bandagiert, wie die der anderen. Sein Gesicht war versteinert und gab keinen Hinweis darauf, ob er einen von ihnen erkannte.
    Galens Augen verengten sich. »Trepanation. Trepanation. Das war es, was Sie mit ihm im Club gemacht haben«, sagte er in anklagendem Tonfall und griff nach Judas Schulter. »Ich erkenne einige von ihnen – es sind Studenten der Universität. Waren Sie für die Vorfälle im Laufe dieser Woche verantwortlich? War das Ihr Werk, Juda?«
    Bevor er antworten konnte, wurde die mitternächtliche Stille von einem durchdringenden Heulen zerrissen. In der gespenstischen Menschenmenge hatte jemand den Kopf in den Nacken gelegt und einen Laut ausgestoßen, der die Fenster von Michaels Wohnung erzittern ließ. Auf der Straße stimmte einer nach dem anderen in den Schrei mit ein, bis es schien, als müsse das Gebäude selbst einstürzen, während die Akademiker aus dem Fenster hinabblickten.
    Einen Augenblick später wurde ihnen bewusst, dass das Gebäude nicht einstürzen würde.
    Stattdessen begannen die heulenden Studenten mit den durchlöcherten Köpfen, die Mauern hinaufzuklettern.
    Michael und Galen wandten sich fragend nach Juda um und stellten fest, dass dieser bereits an der Tür stand, das Palimpsest fest unter einen Arm geklemmt. »Kommen Sie?«, fragte er entschlossen. »Ich denke, wir sollten verdammt noch mal von hier verschwinden, oder?«
    Juda befand sich bereits am Ende des Korridors, als Galen die Tür erreichte und der erste heulende Student durch das Fenster brach.
    Michael bildete das Schlusslicht. Er ließ die Tür hinter sich offen.

 
KAPITEL SIEBEN
Die Kirche des Phineas Gage
     
    Wenn es eine Religion gibt, von der man behaupten kann, dass sie vollkommen zum Alltagsleben der Wiener gehört, so beruht sie auf dem Kaffeekonsum und seinen Tempeln, den Kaffeehäusern. Natürlich gibt es überall auf der Welt Kaffee trinkende Kulturen und Orte, wo er in noch größeren Mengen konsumiert wird – vielleicht sogar Orte, wo er weit mehr Bestandteil der allgemeinen Harmonie ist, etwa in Forschungsstationen in der Antarktis. Doch der Katechismus, an dem Wien festhält, lautet: Wenn man schon Kaffee trinkt, dann mit Stil.
    Der erste Aspekt, der bei der Eröffnung eines Wiener Kaffeehauses bedacht wird, ist seine Atmosphäre. Das Lokal muss aussehen, als sei es seit Napoleons Besetzung ständig bewirtschaftet

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