Die ewige Straße
Besucher ein Gefühl vergangener Größe und das Versprechen einer besseren Zukunft.
Aus dem Fenster seines Arbeitszimmers überblickte Silas den gesamten südlichen Teil des Gebäudes mit den vielen Bögen und Rängen und Wachhäuschen. »Vergeßt die Politik«, pflegte er seinen Studenten zu raten. »Konzentriert euch statt dessen auf die Architektur. Wenn wir in der Lage sind, aus Steinen etwas derart Schönes zu errichten, was gibt es dann, was wir nicht könnten?«
Und doch …
Wer auch nur ein paar Fuß tief in den Boden grub, konnte damit rechnen, auf vorzeitliche Mauern und Fundamente zu stoßen. Sie waren überall. Die Straßenbauer hatten die architektonischen Fähigkeiten seines Volkes bei weitem übertroffen, und doch waren sie im Nichts verschwunden. Ihr Schicksal war eine ständige Mahnung gegen jede Form der Hybris.
Der Palast, einst voller Leben, war heutzutage nur noch ein großes Mausoleum mit einer Schule in dem einen und einem Museum im anderen Flügel. Und jedes Jahr aufs neue fragten sich die Studenten, ob das Volk der Illyrer nicht bereits den ersten Schritt zurück gemacht hatte. Unter den Lehrern gab es nicht wenige – Silas eingeschlossen –, die davon überzeugt waren, daß das gegenwärtige demokratische System nur wenig besser war als eine Herrschaft des Pöbels. Gewöhnliche Menschen, so vermuteten sie, hatten unausweichlich stets nur ihre eigenen Interessen im Sinn. Eine Nation benötigte Autorität und gebildete Führer, wenn sie überleben wollte. Man mußte nur, so dachte Silas, einen Mechanismus entwickeln, der unter einer kleinen Anzahl von Familien für ein Kräftegleichgewicht sorgte. Diese Familien sollten zum Herrschen erzogen werden und unter sich den Besten bestimmen, der dann den Thron besteigen sollte. Was die praktische Seite eines solchen Mechanismus anging, war Silas allerdings vollkommen ratlos.
Nachdem er Kariks Leichnam den Flammen übergeben hatte, war Silas in eine kontemplative und beinahe düstere Stimmung verfallen. Wenn ein Volk die Fähigkeit erreichen konnte, die monumentalen Bauwerke zu errichten, die in sämtlichen Wäldern der Erde anzutreffen waren, und dann doch nicht fähig war, sein eigenes Aussterben zu verhindern – welche Schlußfolgerungen mußte man daraus ziehen? Silas war nicht so leicht bereit, seine Überzeugung abzulegen, daß die Geschichte den moralischen und technischen Fortschritt der Menschheit reflektierte.
Er hatte über dieses Thema zahlreiche Diskussionen mit Karik geführt. Karik war der Auffassung gewesen, daß Geschichte Chaos war, und hatte sich stets gewundert, wie jemand, der inmitten all der Ruinen lebte, etwas anderes glauben konnte.
Silas betrachtete sich zwar als Historiker, doch war es keineswegs so, daß die Lehrer am Imperium sämtlich ihre Spezialgebiete besaßen. Tatsächlich war das grundsätzliche Wissen derart limitiert, daß eine Spezialisierung über sehr grobe Kategorien hinaus absurd erschienen wäre. Außer Geschichte umfaßten diese Kategorien nur Ethik, Philosophie, Theologie, Medizin, Rhetorik, Mathematik und Recht.
Einige von Silas’ Schülern hatten der Einäscherung Kariks beigewohnt. Am nächsten Tag im Seminar hatten sie überlegt, wie ein so gelehrter Mann sich auf eine derart große Dummheit hatte einlassen können, und eine hitzige Diskussion war entbrannt über die Fähigkeit sogar der besten Köpfe, sich selbst hinters Licht zu führen.
Am Ende der Stunde blieb einer von Silas’ Schülern sitzen. Sein Name lautete Brandel Tess, und er war unter denjenigen gewesen, die Kariks Zeremonie besucht hatten. Er sah verwirrt aus. »Master Glote«, begann er zögernd, »einer meiner Freunde ist Tokos Enkel.«
»Toko?«
»Ja. Master Endines Diener.«
»Oh, Toko. Ja. Und …?«
»Er hat erzählt, daß sein Großvater behauptet, eine Kopie des Yankees aus Connecticut in Master Endines Gemächern gesehen zu haben.«
»Sicher hat Toko sich geirrt.«
»Er sagt nein. Toko schwört, daß sie dort war. Er sagt, Karik hätte sie jahrelang offen auf einem Lesepult liegen gehabt und ihm das Versprechen abgenommen, niemandem ein Wort zu erzählen. Und jetzt ist das Buch verschwunden, sagt Toko.«
»Hat er Flojian deswegen angesprochen?«
»Flojian hat geantwortet, daß er das Buch weggegeben hätte.«
»Und an wen?«
»Ich glaube nicht, daß es schicklich gewesen wäre, danach zu fragen.«
Silas schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein«, sagte er mit überzeugter Selbstsicherheit. »Es gibt
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