Die ewige Straße

nicht«, beantwortete Flojian die unausgesprochene Frage, »daß mein Vater sich jemals mit einem Vorschlag wie diesem einverstanden erklärt hätte.«
    »Es ist unmoralisch«, sagte Avila. »Heiler sind zum Heilen verpflichtet, und nicht zum Auslöschen von Leben. Unter gar keinen Umständen.«
    Shannon verschränkte die Arme vor der Brust. In der Ferne zogen Nebelschwaden über das Meer. »Ich bin nicht gut darin, moralische Standpunkte zu diskutieren«, sagte er, »aber ich wollte auch nicht, daß mich jemand allein bei den Wölfen zurückläßt. Und genau das ist es, worüber wir hier reden. Wenn nicht sogar Schlimmeres.«
    Avilas Augen wurden dunkel.
    Eine plötzliche Bö kräuselte das Wasser. »Jon hat recht«, sagte Chaka. »Ich stimme dafür.«
    Ein paar Stunden ging es hin und her. Hin und wieder wechselten einige die Seiten; Avila gestand zu, daß sie Mike nicht allein zurücklassen durften; Shannon kam irgendwann zu der Erkenntnis, daß die Entität viel zu kostbar war, um sie abzuschalten; Chaka bemerkte, daß Silas entsetzt gewesen wäre bei dem Gedanken, eine so einzigartige Quelle des Wissens zu vernichten. Doch am Ende kam es immer wieder auf das Gleiche hinaus: Sie konnten, sie durften nicht einfach so davongehen.
     
    Avila stellte ihre Lampe auf dem Boden ab und blickte sich in dem leeren Raum um, als erwartete sie, jemanden auf einem der Stühle sitzen zu sehen. »Mike?« fragte sie. »Wenn du ganz sicher bist, werden wir es tun.«
    »Ich danke euch, Avila.«
    »Wir können nur ein paar Tage bleiben. Wir werden es tun, bevor wir aufbrechen.«
    »Nein. Heute nacht.«
    »Bist du wirklich so begierig darauf zu sterben?« Sie betonte das Wort absichtlich, in der Hoffnung, ihn vielleicht von seinem Entschluß abzubringen.
    Mike schien es nicht zu bemerken. »Ich bin nicht ei n mal sicher, ob meine Schöpfer gewollt haben, daß ich ein Bewußtsein entwickle«, sagte er. »Aber wie auch immer, ich habe genug.«
    »Aber warum heute nacht? Du lebst schon so lange Zeit hier; kannst du nicht noch ein paar Tage warten?«
    »Nein. Ich bin das Licht satt. Und ich weiß, daß es euch nicht leicht fällt. Ich habe Angst, daß ihr euren En t schluß ändern könntet. Daß du und deine Freunde z u rückschrecken und dem moralischen Kodex Folge leisten könntet, den ihr für euch konstruiert habt, und daß ihr einfach in die Nacht davonlauft.«
    »Wir werden nicht davonlaufen«, erwiderte sie. In Gedanken rannte sie wieder einmal durch die düsteren Straßen, nachdem der kleine Tully gestorben war, und kehrte zum Tempel zurück. Unfähig, wie es schien, irgendein Wesen zu retten.
    »Du weißt, was zu tun ist?«
    »Ja, das wissen wir. Ich werde es tun.« Keine Verantwortung auf die anderen abschieben. Das hier war ihre Sache.
    »Also schön. Ich habe noch immer einen Zug irgen d wo draußen. Er wird bald zurück sein. Laßt mir Zeit, bis ich ihn in den Schuppen gefahren habe. Ich will ihn noch waschen und reinigen, bevor ich ihn einmotte. Es dauert vielleicht zwei Stunden. Sobald ich damit fertig bin, kannst du anfangen.«
    »Das war ein Scherz«, sagte Avila. »Oder?«
    Mike lachte. »Selbstverständlich. Avila, freu dich mit mir! Das ist eine Nacht zum Feiern.«
    »Nicht für mich, Mike.«
     
    »Du findest es in einem grauen Kasten. Auf der Vorde r seite steht MICA Schrägstrich SR. An der Seite des K a stens befindet sich ein Schalter, ein Knopf mit der Au f schrift POWER. Der Kasten vibriert schwach im Innern. Drück auf den Knopf. Die Vibrationen werden aufhören. Wenn du das getan hast, aber nicht vorher, nimmst du den Kasten auseinander. Vielleicht wird das zu einem Problem, dann mußt du eine Axt nehmen. Im Innern des Kastens findest du ein weißes Metallgehäuse mit einer schwarzen runden Scheibe darin. Nimm die Scheibe und zerstöre sie. Es reicht, wenn du sie ins Wasser wirfst.«
    »Wird es weh tun?« hatte Avila gefragt.
    »Nein«, hatte Mikes Antwort gelautet. »Ich bin nicht imstande, physischen Schmerz zu empfinden.«
    Sie hatten sich alle in seinem Raum versammelt und versucht, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Mike war fröhlich gewesen und hatte sie ermutigt, in ihrer Suche fortzufahren. »Ich besitze einige Erfahrung mit Me n schen«, hatte er gesagt, »und ich glaube, nur wenige von ihnen hatten je Gelegenheit, Größe zu erreichen. Ihr habt sie. Nutzt eure Chance.«
    Nachdem die Maglev zurückgekehrt war, hatten sie alle mehr oder weniger still herumgesessen. Keiner wollte als erster den