Die Ewigen Jagdgruende der Frau Weinwurm
gefährlichen Jungs einbrachte. Allen voran das Grienen von Hendrik
und seinem Adjutanten Klaus-Dieter, der angesichts der verbrecherischen Namensgebung
seiner Eltern nur Magnum (cooler Typ, schnell, witzig, roter Sportwagen, ganz
Klaus-Dieter mit seinem Rebellenherzen!) genannt werden wollte, und wehe Ivonne
vergaß dies ein einziges Mal!
Carmen! Monika!
Elsbeth! Die hübschen Zofen von Susanne und Annemie, nicht nur akzeptiert sondern
auch beliebt, und so klaffte eine Lücke, ein Graben, breit und ausufernd
wie der Grand Canyon, uneinsehbare Schrecken hinter den Felsen bergend,
zwischen der Top-Susanne-Annemie-Carmen-Monika-Elsbeth-Elite und Nichts Nichts
Nichts und lange Nichts und dann Ivonne und dann nichts und dann: Liliane.
Liliane war ein Etwas ,
sie war einfach da , in der ersten Reihe, neben Monika in diesem letzten
Schuljahr, im nächsten vermutlich neben Carmen oder Elsbeth, denn die Zofen
mussten sich gegenseitig abwechseln, da es keine Einzelplätze gab und sich niemals
die Frage gestellt hätte, ob sich einer der Jungen neben Liliane setzen würde.
Sie war da, aber ihre Gestalt verschwamm merkwürdig mit den grauen Tischen und
Stühlen. Und wenn ein Lehrer sich an sie erinnerte und eine Frage stellte,
antwortete sie mit abgewandtem Kopf und zog die Schultern bis zur Tischkante
hinab, dass man denken musste, sie sei ein hässliches, geschlagenes Hündchen
und man schnell den Blick wieder abwandte, weil die Hässlichkeit des
geschlagenen Hündchens so schnell das Mitleid aufsog und man sich für die
eigenen unschönen Gefühle schämte. Sobald es läutete, war Liliane wieselflink
verschwunden, nichts blieb auf ihrem Pult oder neben ihrem Stuhl zurück, und
sie tauchte erst nach der Pause, geduckt und atemlos hinter dem Lehrer, wieder
auf. Und wo war sie in der Zeit gewesen? Was hatte sie getan? Und: Wen
interessierte das schon? Sie war in der sechsten Klasse dazugekommen und Ivonne
vermutete, dass sie in allen Tests der Alpha-Jungs so glorreich verloren hatte,
dass sie sogar die Einstufung als Minderwertige verpatzt hatte, ein
Nichts, ein Unwesen, vergessen wie ein altes Möbelstück, das man immer schon
einmal in den Keller schaffen wollte, und das immer nur dann auffiel, wenn man
mit dem Knie dagegen stieß. Das geschah hin und wieder, bemerkte Ivonne, wenn
Hendrik oder Klaus-Dieter Magnum oder Dirk oder Thomas oder Clemens auf dem Weg
zur Tafel versehentlich – oder doch nicht? –gegen Lilianes Tisch rempelten. Und
dann! Ein Stromschlag durch Lilianes schmalen Körper, die spitzen Ellenbogen
ausgefahren wie Drachenschwingen! Ihr quittengelber Nylonpulli leuchtete
plötzlich so hell und knisternd, dass sich Ivonne die Augen rieb und sie
erwartete, dass Liliane aufstiege durch die dicke, sämige Luft im Klassenraum
und eine rote Stichflamme schösse aus ihrem weit geöffneten Mund hinab auf
Thomas, der gerade an der Tafel eine Bruchrechnung löste und mit erhobenem Arm
zu einer lodernden Feuersäule würde. Doch nichts geschah und Ivonne sah aus dem
Fenster und vergaß Liliane wieder.
Am Ende des
Schuljahres schien jedenfalls nichts geklärt, Ivonne konnte nicht sagen, wie
groß der Abstand zwischen ihr, den Zofen und den Königinnen auf der einen und
zu Liliane auf der anderen Seite war. Es war nur klar, dass sie niemals mit
AnnemieElsbethMonikaCarmen zum Ärobick gehen könnte und mit der verfaulenden
Susanne schon gar nicht, denn würde sie fragen, böte sie Spott und Häme bis
Weihnachten oder sogar Fastnacht. Sie befand sich im Nichts, in der Wüste, und
sie zuckte zusammen, als die haarigen Waden ihres Vaters plötzlich vor ihr
auftauchten.
»Ah, los, Mädchen, ab
ins Wasser mit dir! Da bietet man dir DAS hier und du klebst mit deinem Popo
den ganzen Tag auf dem Handtuch! Du musst dich bewegen, was erleben, das ist
Urlaub, schönste Zeit im Jahr, das ist der Basisgedanke, letztlich!«
Ivonne hob den Kopf
von den Knien und blinzelte nach oben in das gerötete und gedunsene Gesicht
von Herrn Weinwurm. Die Zipfel des geknoteten Eau-de-Cologne-Tuches wippten im
Wind und der Duft von Erfrischungswasser und Weißwein wehte zu ihr hinab. Seine
Worte schlierten im Zickzack, als hätte er Ivonne gar nicht recht im Visier,
und Ivonne fragte sich zögerlich, ob der Wein ihn heute nachsichtig,
verächtlich, melancholisch oder aggressiv machte. Er ließ sich schwer neben
Ivonne in den Sand plumpsen, hielt sich mit einer Hand an Tereses Liegestuhl
wie an einer Reling fest und kreuzte mit der anderen
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