Die Ewigen
Übergeben müssen hatte ich mich natürlich trotzdem, doch nach ein paar Minuten Ruhe und Auspegeln mit Magnus war alles halbwegs gut. Ciaran hatte dazu zwei Theorien: Erstens - meine Kraft beziehungsweise meine Fähigkeit, den Kraftverlust zu kompensieren, wuchs kontinuierlich; zweitens - nichts nahm zu, ich benötigte nur lange Ruhepausen zwischen zwei Einsätzen, um diese so gut überstehen zu können. Überprüfung der Theorien durch weitere Versuche in den nächsten Tagen, was auch sonst. Ich freute mich zwar nicht gerade darauf, aber da ich nun einmal beschlossen hatte, so viel wie möglich über meine seltsamen Kräfte zu lernen, bevor ich ging, signalisierte ich Ciaran meine Zustimmung.
Davides Eintritt in den Orden bedeutete indes nicht nur für Jackson als seinem Mentor Arbeit: Zahlreiche von Davides zukünftigen Brüdern und Schwestern wurden eingespannt, um ihn zu einem guten Abitur zu führen und ihm allerlei Wichtiges und Nichtiges über sein neues Dasein als Kreuzritter zu lehren. Auch mich hatte Ciaran um Unterstützung gebeten, und ich half gern: Nicht nur, weil ich nach wie vor das Gefühl hatte, bei Davide in der Schuld zu stehen, sondern vor allem auch, weil ich den Jungen aufrichtig gern hatte. Er lief mit großen Augen durch die schöne, bunte Kreuzritterwelt, lachte viel, aber nie über andere, fragte viel, ohne zu nerven, war einfach ... angenehm, der liebe kleine Bruder von jedermann. Meine Unterstützung sollte darin bestehen, dass ich mit Davide für seine Abitur-Klausur in Deutsch lernte, und am Tag nach Jacksons Antrag saß ich zum ersten Mal neben ihm in seinem Zimmer über den Büchern und quälte mich mehr schlecht als recht mit ihm durch eine Ballade von Annette von Droste-Hülshoff, als Jackson anklopfte und sich auf mein 'Herein' zu uns setzte. Genau das gehörte zu den wichtigsten Regeln des Zusammenlebens unter meinen Kreuzrittern, wie ich aus einem Vortrag meines Verlobten (du meine Güte, wie komisch das klang!) für Davide gelernt hatte: Betritt niemals unaufgefordert das Zimmer eines anderen, denn Privatleben ist kostbar in einem Haus, in dem die Türen niemals abgeschlossen werden. Tagsüber wurde geklopft und auf eine deutliche Antwort gewartet, ab der Dämmerung fragte man per SMS an, wenn man jemanden besuchen wollte - keine Ahnung, wie sie das über die Jahrhunderte gehandhabt hatten, in denen die Menschheit ohne Handys auskommen musste - Brieftauben, die von außen ans Fenster pickten? Kam auf die SMS keine Antwort, galt das als 'Nein', Notfälle ausgenommen. Wer die Burg verließ, meldete sich persönlich bei Andreas oder Ciaran ab - was ich geflissentlich unterließ, aber von meinen jeweiligen Begleitern gewissenhaft erledigt wusste.
Jackson trat jetzt hinter mich und strich mir mit dem Finger über meinen verspannten Nacken: Er war den ganzen Tag über unterwegs gewesen, und ich freute mich aufrichtig, ihn wieder zu sehen. Ich widerstand daher nur schwer der Versuchung, aufzustehen und ihn zu umarmen, folgten doch Davides aufmerksame Karamellaugen so schon jeder Bewegung, die Jacksons Hände auf meiner Haut machten.
"Kommt ihr voran?", fragte Jackson, und zupfte ein paar Strähnen meines Haares auf die richtige Seite.
Ich lachte, denn scheinbar waren nicht nur Jacksons Locken mein Gradmesser für seine Stimmung: Ich hatte mir eben mehrfach frustriert meine vom Friseur äußerst engagiert geföhnten Haare gerauft, und strich sie nun mit den Händen halbwegs glatt. Davide sah als Antwort auf Jacksons Frage unglücklich drein und kaute auf seinem Stift herum, mit dem er aussagekräftige Bilder im Text anstreichen sollte: In den Naturwissenschaften mochte er ein Ass sein, doch alles, was offenkundig künstlerisch angehaucht war, stellte ihn vor ein Rätsel. Mit Romanen kam er halbwegs klar, Satiren, Kurzgeschichten und andere Prosa-Texte waren auch noch gerade so okay - aber alles, was auch nur entfernt Versform hatte, brachte ihn zum Verzweifeln. Ich hatte eine Stunde gebraucht, um diese innere Schranke zu finden, nun hielt Davide den Text der Ballade ohne Zeilenumbrüche in der Hand, abgetippt und ausgedruckt. Damit waren wir schon einen Schritt weiter, aber immer noch meilenweit vom Ziel entfernt: Balladen würden auf jeden Fall Thema in seiner Deutsch-Prüfung sein, und er sah bis jetzt noch nicht mal ein, warum jemand nicht schrieb, was er sagen wollte, sondern statt dessen Zuflucht zu Ausdrücken nahm, die erst auf den zweiten oder dritten Blick ihre tiefere
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