Die fabelhaften 12 - Der Schlüssel: Band 3 (German Edition)
Sie erreichten das Ende des sicheren Stegs und mussten auf einen feuchten, abgewetzten Mauervorsprung weitergehen, der neben dem Kanal verlief.
Die jetzt etwa einen halben Meter tiefe, schlammige und stinkende Brühe würde bei starkem Regen bestimmt den halben Tunnel überfluten und zu einem reißenden weißbraunen Strom anschwellen.
»Es ist nicht mehr weit«, sagte Sylvie.
Nur gab es jetzt keine Deckenbeleuchtung mehr. Vor ihnen war es finster.
»Ich hätte eine Taschenlampe mitnehmen sollen!«, schimpfte Sylvie. »Ich stand vollkommen neben mir. Ich hab’s vergessen.«
»Telefone tun’s auch«, meinte Jarrah. Sie holte ihres hervor, drückte eine Taste und richtete ein erstaunlich schwaches und erbärmliches Licht in die Dunkelheit.
Die anderen taten es ihr nach und so taten sich sechs kleine schwache und erbärmliche Lichter zu einem großen schwachen und erbärmlichen Licht zusammen. Es reichte aber aus, damit sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzen konnten.
»Es ist nicht mehr so weit«, sagte Sylvie.
Es war aber noch so weit. Schon bald verloren sie den beleuchteten Teil des Kanalsystems aus den Augen. Jetzt waren sie eine kleine Insel schummrigen Lichts, die sich langsam vorwärtsschob, während sie alle angestrengt versuchten, nicht an Ratten zu denken.
Denn wenn man einmal anfängt über Ratten nachzudenken, gibt es kein Zurück mehr, stimmt’s?
Ratten.
Und in Macks Fall auch noch Klaustrophobie. Dunkelheit in einem unterirdischen Raum ist ein Auslöser für schlimme Klaustrophobie. Klaustrophobie ist schließlich die Furcht vor engen, abgeschlossenen Räumen, also Särgen, also vor dem Lebendig-Begrabensein, und das ist nicht viel anders als sieben Meter unter der Erde in einem modrigen Kanal zu stecken.
»Mmm-hhh-nnn«, stöhnte Mack, ohne es zu merken.
Und was passt verdammt schlecht zu der Vorstellung, lebendig begraben zu sein?
Ratten.
Und irgendetwas da draußen in der Dunkelheit machte leise Kritze-Kratze-Geräusche.
Kritzkratz.
»Mmmm-rrrr-nnnhhh!«, stöhnte Mack noch eindringlicher.
»Schon klar«, antwortete Stefan.
Es konnte nur noch Sekunden dauern, bis Mack sich krümmend und windend auf dem Boden lag. Falls notwendig würde Stefan ihm eins überziehen und ihn sprachlos schocken oder bewusstlos schlagen. Was Mack anbelangte, war beides keine schöne Aussicht.
»Hier«, sagte Sylvie. Sie hielten an und in der plötzlichen durchdringenden Stille – Grabesstille sozusagen – konnten sie das langsam dahinfließende Kanalwasser und deutlich wie nie die Ratten hören.
Sylvie richtete ihr Telefonlicht an die Wand. Dort war ein Schlitz. Sie steckte die Hand hinein. Und zog an einem dort versteckten Eisenhebel.
Auf einmal bildete grelles Licht ein hohes Rechteck.
»Ich bin’s, Sylvie«, sagte sie ins Licht.
Und das Rechteck wuchs an, bis es zu einem Durchgang wurde. Sie traten in einem Raum mit hohen Steinmauern. Und einem Flachbildfernseher, der an einer der Wände angebracht war. Dort lief eine Folge Cosmo und Wanda. Aber alle Figuren sprachen Französisch. Selbst Timmy.
Zwei Kinder standen in dem Raum und schauten argwöhnisch, bereit zu fliehen oder zu kämpfen.
Einer war ein großer, qualvoll dünner Junge mit braunen Haaren und einem scharf gezeichneten, hübschen Gesicht. Er trug eine modische Brille und sein Hemdkragen rahmte die Kieferpartie perfekt ein.
Der andere Junge war kleiner, etwas untersetzt, er hatte volle Lippen und machte einen interessierten, aber sarkastisch-klugen Eindruck.
»Wir schauen da gar nicht richtig hin«, sagte Rodrigo und deutete mit seinem Modelkinn auf den Fernseher.
»Doch, tun wir«, widersprach Charlie. »Weil wir hier unten nur ein Programm reinbekommen. Und es hat wohl keiner dran gedacht, diesen Raum hier mit Büchern oder Spielen auszustatten, also verblöden wir hier immer mehr und würden im Grunde alles gucken. Ja, alles.«
»Außer Jersey Shore «, meinte Rodrigo. »Ich mach jetzt aus.«
»Nein!«, rief Mack beinahe flehentlich. »Nein. Es wirkt irgendwie beruhigend.«
Offenbar hatte Stefan Mack losgelassen. Stefan wusste inzwischen recht gut mit Macks Phobien umzugehen. Er hatte zwar keine besonderen intellektuellen Fähigkeiten, aber er konnte die Schwächen anderer irgendwie intuitiv erfassen. Er hatte Mack begriffen. Und deshalb wusste er, dass ein gut beleuchteter unterirdischer Raum mit Fernseher für Mack erträglich war. Schließlich wurde niemand mit einer Kiste, in der permanent
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