Die Fährte der Toten
Mädchen gewesen, und sie hatte ihn gefragt, ob ihre Vorfahren wilde Indianer gewesen wären. Ihr Vater hatte gelächelt und ihr ein wenig über die Geschichte ihres Stammes erzählt. Vieles davon hat Lee inzwischen wieder vergessen, aber eines nicht - dass ihre Ahnen einem kriegerischem, unbeugsamem Volk entstammten und kein Verbrechen ungesühnt gelassen hätten. Ihre Vorfahren würden ihr Vorhaben gutheißen, denkt sie.
Sie lässt ihre fast bis zum Filter abgerauchte Zigarette fallen und zertritt sie mit dem Absatz. Das Herz klopft ihr bis zum Hals, als sie die Tür aufdrückt.
'Wir haben schon geschlossen. Kommen Sie morgen wieder, wir machen so gegen zehn auf, dann...na hallooo...'
Ein breites Grinsen erscheint im Gesicht des Mannes, der hinter einem klapprigen Tisch hockt und in irgendwelchen Papieren blättert. Er fährt sich mit seinen dicken Fingern durch seine schmierigen Haare, lehnt sich in seinem Stuhl nach hinten und gibt sich vergeblich Mühe, seinen Bierbauch einzuziehen.
Seine Augen gleiten über Lees Figur. Nette Titten, denkt er. Hübsch verpackt in einer straff geschnürten Lederweste, passend zu der Lederjeans und den Bikerstiefeln. Und Beine hat die Kleine...
'Ist ja mein Glückstag heute – solch Glanz in meiner bescheidenen Hütte, und das auch noch direkt nach Feierabend. Wo solls denn hingehen, schöne Frau?'
Lee verzieht den Mund und lässt die Blicke des Fettsacks von sich abperlen, während sie die Gestalt vor sich mit dem Gesicht auf dem Foto vergleicht. Nicht der Richtige. Na, wäre ja auch zu einfach gewesen. Obwohl sie nicht übel Lust hätte, den Penner auch gleich umzunieten, wenn er sie weiter so mit seinen Blicken abschleckt.
'Zu deinem Boss, Dicker! Ich hab einen Termin.'
'Ahhhh...okeeeey...wenn das so ist...das Büro vom Boss ist den Flur runter und dann hinten links.'
Der Fettsack deutet in Richtung eines kurzen Ganges.
'Kannst dich nicht verlaufen. Gibt nur eine Tür außer dem Scheißhaus, und das willst du nicht benutzen.'
Er lacht meckernd. Lee verdreht die Augen.
'Besten Dank für den Ratschlag, ich werd dran denken…', sagt Lee und geht an dem Kerl vorbei, der ihr hinterher schaut und sich dann wieder kopfschüttelnd seinen Papieren widmet.
***
Die Schritte ihrer Stiefel hallten dumpf auf dem abgetretenen Linoleum wieder. Vor der Tür verharrt sie und lauscht. Eine Männerstimme erklingt durch die Tür. Anscheinend telefoniert jemand und hält einen Monolog, von dem sie nur Bruchstücke versteht.
Sie sieht sich ein letztes Mal um und checkt noch einmal den Sitz der Waffe in ihrem Rückenholster. Egal worüber da gelabert wird, denkt sie, gleich wird das Thema gewechselt. Sie atmet noch einmal tief durch und öffnet ohne anzuklopfen die Tür.
Hinter einem Schreibtisch sitzt der Mann auf dem Foto. Schräg neben ihm ein zweiter Kerl, der sich zu einer miesen Elvis-Inkarnation aufgedonnert hat und gerade mit seinem Stuhl nach hinten kippelt. Wär ja auch zu schön gewesen, denkt Lee.
Sie richtet ihren Blick wieder auf den Mann hinter dem Schreibtisch, der sich gerade durch seine Straßenköter blonden, kurzgeschnittenen Haare streicht. Vor ihrem geistigen Auge erscheint eine jüngere Version von ihm, die Augen verdeckt von einer Sonnenbrille mit kleinen runden Gläsern, eine Maschinenpistole im Anschlag, die auf den Wagen ihrer Eltern gerichtet ist.
Kurzhaar dreht seinen Stuhl in Lees Richtung.
'Verdammt, ich hab doch gesagt, dass ich nicht gestört werden -'
Er ist für einen Moment perplex, fängt sich aber schnell wieder.
'Kann ich Ihnen helfen, junge Frau? Oder haben Sie sich verlaufen? Die Toilette ist gleich nebenan - wenn Sie die benutzen möchten.'
Kurzhaar wirft Elvis einen kurzen Blick zu, der nur leicht in sich hinein kichert und Lee ansonsten ignoriert.
Lee schüttelt den Kopf.
'Nein. Will ich nicht.'
Sie macht einen Schritt nach vorn.
'Und ich hab mich auch nicht verlaufen.'
'Ach? Nicht? Dann wüsste ich gerne mal, was Sie zu mir führt. Und warum Sie einfach so in mein Büro hereinplatzen.'
Lee stemmt die Hände in ihre Hüften und legt den Kopf leicht schief, während sie Kurzhaar direkt in die Augen schaut.
'Oh, das tut mir leid. Ich dachte, als alte Bekannte kann ich mir das erlauben. Außerdem – wir haben eine –Verabredung miteinander. Seit langer Zeit. Schon vergessen?'
Lee kommt es vor, als würde
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