Die Fährte der Toten
obendrein gar nicht mal so wenig Bares.
'Lern mit deiner Freiheit umzugehen. Sonst wirst du untergehen wie schon so viele andere vor dir.'
Lee lacht freudlos, richtet sich auf und lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand. Sie hatte sich die Worte ihres Schöpfers zu Herzen genommen. Und geübt. Wie man sich unter Menschen bewegt. Ihnen vorgaukelt, dass man eine von den Lebenden ist und kein Raubtier auf Beutehatz. Sie hatte sich sehr schnell angepasst. Was auch bitter notwendig war, denkt sie. Denn der Hunger lässt nicht mit sich verhandeln. Es hatte nur ein paar Tage gedauert, bevor sie ihn wieder verspürte.
Glücklicherweise war das zweite Mal nicht mehr so schlimm. Weil der Kerl es verdient hatte. Irgendwie. Sie war erst unschlüssig gewesen, ob ihre Wahl die richtige war, doch Frank hatte sie ermuntert.
'Folge deinem Instinkt. Er wird dich leiten.'
Also hatte sie den Typen angequatscht. Er war arglos gewesen, dachte wohl, sie wollte nur etwas Koks oder Gras. Dumm gelaufen für ihn. Irgendwie hatte sie es sogar genossen, ihn zu töten.
'Dein Jagdtrieb ist erwacht', hatte Frank gesagt. 'Das ist ein gutes Zeichen.'
Sie hatten die Leiche gemeinsam entsorgt und Lee hatte sich nach und nach verschiedene Gebiete des Molochs als Jagdgebiet auserkoren. Bisher war alles glatt gegangen, und sie hatte schon fast eine Art von Routine entwickelt im Beuteschlagen. Eigentlich, denkt sie, könntest du also ganz zufrieden sein.
Wenn da nur nicht dieses erste Mal wäre. Dieses Gesicht – sie kann es nicht vergessen. Die Angst in den Augen des Mannes. Diese stumme Bitte. Lass mich leben. Ich habe dir doch nichts getan.
Lee drückt die Zigarette im überfüllten Aschenbecher aus, setzt sich auf die Bettkante und massiert sich die Schläfen. Diese Erinnerung…sie will einfach nicht verblassen. Sie wirft einen Blick auf die Uhr, um sich abzulenken. Bald wird die Sonne aufgehen. Womit wir beim nächsten Problem wären, denkt sie.
Denn sie wird es nicht erleben. Diese Lektion hatte sie auf die harte Tour gelernt. Es war eine der ersten Nächte, in der sie ihre neu gewonnene Freiheit genutzt hatte. Die Morgendämmerung war angebrochen, und die Müdigkeit kroch bereits in ihr hoch, als sie aus einer Laune heraus überlegt hatte, dass sie doch einen winzigen Blick riskieren könnte.
Sie hatte den Vorhang nur ein kleines bisschen beiseite gezogen, doch das hatte schon ausgereicht. Es war ein Gefühl, als hätte sie ihre Hand in Lava getaucht. Der Schmerz war schlimmer gewesen als alles, was sie jemals am eigenen Leib erfahren hatte. Es hatte Nächte gedauert, bis die Wunden verheilt waren, und die Schmerzen hatten zu keiner Zeit nachgelassen.
'Das Auge des Himmels hat sich von uns abgewandt. Und wenn wir es doch betrachten, dann wirft es seinen strafenden Blick auf uns.'
Franks Worte. Wenn es eine Sache gibt, für die sie ihn auf ewig hassen würde, dann dafür. Dass sie die Sonne nie wieder sehen und ihre wärmenden Strahlen auf ihrer Haut genießen kann. Dass sie nie wieder erleben wird, wie sie die Augen schließt, gen Himmel blinzelt und ein ganzes Kaleidoskop von Farben hinter ihren Lidern explodiert.
Alles vergangen.
Zurück bleiben nur die Dunkelheit und der Mond, der sein kaltes Licht über Lee ausgießt. Wieder überkommt sie dieses quälende Gefühl der Hilflosigkeit und der Wut, und in einem Anfall von Zorn rammt sie ihre Faust in die Wand. Kurz verspürt sie einen diffusen Schmerz, der jedoch fast so schnell verschwindet wie er gekommen ist.
Nein, sie wird nicht untergehen. Sie wird es schaffen. Und sei es nur, damit sie sich an Frank rächen kann für das, was er ihr angetan hat. Vor allem aber, weil sie herausfinden will, warum er sie verwandelt hat. Es muss einen Grund gegeben haben. Und sie wird ihn erfahren. Bis dahin wird sie durchhalten. Koste es was es wolle.
Teufel / 12
Lee tigert in ihrem Zimmer auf und ab, während sie mit ihrem Handy herumspielt. Sie kann den Lauf der Sonne ebenso wie die Phasen des Trabanten innerlich abrufen, ganz so als wenn sie zum Nachthimmel emporschauen würde. In dieser Nacht wird der Mond seinen Lauf vollenden und in kalter Pracht am Firmament erscheinen. Noch ist kein Wölkchen zu sehen, aber das wird sich ändern. Sie kann es fühlen. Auch so eine Fähigkeit, die in ihrem Innern wie aus dem Nichts erwacht ist. Die Bäume haben vor kurzem damit begonnen, ihr Laub zu verlieren, und ein leichter
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