Die Fährte der Toten
räumt Lee die Kasse aus und knallt die Lade zu, die prompt wieder aufspringt, weil sie zu viel Schwung genommen hat. Jennifer sieht sich noch einmal um und nickt zufrieden.
'Das muss reichen. Wir sollten uns jetzt auf den Weg machen. Was mich angeht – ich muss nicht mehr Leichen produzieren als nötig. Was ist mit dir?'
Lee will zu einer heftigen Entgegnung ansetzen, aber ein Blick auf Jennifer reicht ihr, um sich auf die Zunge zu beißen.
'Dachte ich mir. Also, gehen wir.'
Jennifer dreht sich um und geht zum Ausgang, wobei sie darauf achtet, nicht in eine der Blutpfützen zu treten, und Lee folgt ihr, ohne auch nur einen einzigen Blick zurückzuwerfen.
Engel / 4
'Wir sind da.'
Ein Bediensteter in einem perfekt sitzenden Anzug eilt zur Wagentür, öffnet sie für Jennifer und reicht ihr die Hand. Lee steigt auf der anderen Seite aus und lässt ihren Blick über das riesige und bedrückend wirkende Anwesen wandern. Das düster vor ihr aufragende Haupthaus ist in einem altmodischen Stil erbaut und fast komplett mit Efeu überwachsen, der nur die großen Flügelfenster offenlässt. Als wäre es ein Teil des Waldes, der im Hintergrund stumm Wache hält, denkt Lee. Fehlen nur noch diese Dämonenfiguren in den Giebeln. Wie nennt man die doch gleich noch mal?
'Gargylen', sagt Jennifer. 'Und nun komm.'
Jennifer geht die Stufen hinauf und berührt etwas in der Mauer, woraufhin die Tür sich wie von Geisterhand öffnet. Lee folgt ihr zögerlich und schrickt leicht zusammen, als Jennifer das Fahrzeug automatisch verriegelt. Ansonsten durchbricht kein Laut die Stille. Keine Vögel, keine Insekten – nichts. Lee sieht sich misstrauisch um, aber Jennifer scheint sich nicht daran zu stören.
'Kein Grund nervös zu sein. Hier sind wir ganz unter uns.'
Jennifer tritt durch das Portal, während der Diener in respektvollem Abstand wartet, bis Lee ihr gefolgt ist. Sie kommt sich vor wie eine kleine Göre. Als wenn diese Jennifer ihre Gouvernante wäre.
Hinter dem doppelflügeligen schweren Holzportal breitet sich ein großer, in dezentes Licht getauchter Flur aus, von dem mehrere Türen abgehen. Im hinteren Teil führt eine geschwungene, mit einem samtroten Teppich ausgelegte Treppe in das Obergeschoss. An den Wänden hängen Gemälde, teils alte, teils zeitgenössische Sachen. Lee kann sie nicht zuordnen, aber eines davon sieht interessant aus, und sie bleibt kurz stehen, um es zu betrachten.
'Wundervoll, nicht wahr?'
Jennifer betrachtet das Bild jetzt ebenfalls.
'Ich habe den Künstler zu Lebzeiten kennen gelernt. Ein faszinierender Mann. Es gibt nicht viele seiner Art, und noch seltener hat man das Glück, einem wie ihm im Laufe der Jahrhunderte persönlich zu begegnen. Gefällt es dir?'
Lee zuckt mit den Schultern, ohne jedoch die Augen von dem Bild zu nehmen. Es zeigt einen Laden, anscheinend noch geschlossen. Im Fenster eine Uhr, die anzeigt, dass es kurz vor Morgengrauen sein muss. Oder vor der Abenddämmerung, ganz wie man es nimmt, denkt sie. Lee glaubt das Ticken der Uhr zu hören. Fast schon unheimlich. Vor allem durch den Wald, der sich von hinten an das Haus heranschiebt. Sie hat das Gefühl, dass es dort ganz alleine steht, abseits der Welt der Menschen. Ein Haus, in dem unsere Art seine Zuflucht findet, denkt sie. Lee reißt sich von dem Bild los und wendet sich wieder ihrer Gastgeberin zu.
'Ja...ja, ich glaube schon. Ich hab es mal irgendwo gesehen. Bestimmt teuer gewesen. Aber auf eine seltsame Art schön...'
Lees Blick wandert wieder zu dem Bild, und es scheint sie locken zu wollen. Tritt ein. Komm in mein Reich.
Jennifers Stimme reißt Lee aus ihren Gedanken.
'Für die nächste Zeit kannst du hier bei mir bleiben. Doch bald wirst du deine eigene Zuflucht beziehen müssen. Ich kann nicht von mir behaupten, eine gute Gastgeberin zu sein. Und unsere Art ist auch nicht dafür bekannt, sich allzu gut miteinander zu verstehen, wenn sie zu lange eine gewisse...Intimität miteinander pflegt. Und manchmal können ein Tag und eine Nacht schon eine sehr lange Zeit sein.'
'Was du nicht sagst...'
Jennifers Mundwinkel zuckt ein wenig, doch sie sagt nichts und wendet sich dem Mann zu, der ihnen wie ein Schatten gefolgt ist. Wozu braucht jemand wie Jennifer so einen, denkt sie.
Immerhin, Geschmack hat sie, das muss man ihr lassen. Ein hübsches Exemplar in einem makellos sitzenden schwarzen Anzug mit gepflegtem
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