Die Fährte der Toten
wenigen Habseligkeiten zusammen und stopft alles in die Tasche mit ihrer Beute.
Gespenster oder nicht, es ist Zeit abzuhauen.
***
Lees Hände krallen sich um die Stange, während der Zug über die Gleise rumpelt. Sie versucht, den Hunger zu bändigen, der in ihr tobt, während der Geruch von Schweiß, billigem Parfüm und Fast-Food-Fraß den vollgestopften Waggon verpestet. Hinter ihr unterhalten sich zwei fette Weiber über ihre Krankheiten, ihre impotenten Ehemänner und ihre verzogenen Gören. Lee sehnt die nächste Station herbei. Bloß raus aus diesem Viehtransporter.
Endlich stoppt der Zug, und seine menschliche Fracht quillt auf den Bahnsteig. Lee versucht sich zu orientieren, während um sie herum die Menschenmasse in Richtung Ausgang flutet. Vor einem Übersichtsplan steht ein Mann mit seinem kleinen Kind. Lee lässt ihren Blick über die beiden wandern, und der Junge schmiegt sich an seinen Vater. Du weißt, was ich bin, denkt sie. Ein Monster, das sich hinter einer Maske versteckt. Das Ding, das in deinem Schrank lauert oder unter deinem Bett. Der Vater löst sich von der Tafel und fragt seinen Sohn etwas. Das Kind schaut in Lees Richtung, und der Blick seines Vaters folgt ihm. Kurz treffen sich ihre Blicke, dann zerrt er seinen Sohn Richtung Ausgang und hastet mit ihm die Treppen hinauf.
Lee verspürt den Drang, ihnen hinterher zu hetzen, doch sie kann sich beherrschen. Was ist los mit dir, denkt sie. Reiß dich zusammen! Sie sieht sich noch einmal um. Die Station hat sich inzwischen geleert. Kein Wunder, warum sollte man in diesem Loch auch länger als nötig rumhängen. Soviel dazu, sich eine leichte Beute zu suchen. Lee geht langsam Richtung Ausgang, als sie bemerkt, wie still es geworden ist. Unmerklich beschleicht sie das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Von ferne wehen bruchstückhafte Worte an ihr Ohr, ein Tuscheln und Zischen. Lee kann die Augenpaare der Flüsterer in ihrem Rücken förmlich spüren, aber als sie herumwirbelt, ist nichts zu sehen. Sie wirft ihre gerade erst angerauchte Zigarette weg und geht mit langsamen Schritten in Richtung Treppe. Am Absatz der Treppe angekommen starrt sie noch einmal in die Schwärze des Tunnels, bevor sie die Stufen hinauf hastet, dem Neonlicht der nächtlichen Stadt entgegen.
Das kleine Mädchen, das ihr mit leeren Augen hinterher blickt, bemerkt sie nicht mehr.
Engel / 3
Nachdem Lee eine gefühlte Ewigkeit durch die Gegend gelaufen ist, erblickt sie die Leuchtreklame einer Bar. Sie betritt den Schuppen, der schon bessere Tage gesehen hat. Eine langgezogene Theke mit abgewetzten Barhockern und ein paar Nischen, in die man sich zurückziehen und dem Suff frönen kann.
Sie lässt sich auf eine Bank fallen und sieht sich um. Zur Auswahl stehen die Bedienung und ein paar Kerle, die sie gleich von der Speisekarte streichen kann. Lee lässt ihr Feuerzeug auf und zu schnappen. Wo jetzt noch hin? Sie kennt sich hier nicht aus. Noch eine Nacht durchhalten? Unmöglich – so lange kann sie sich nicht beherrschen. Sie betrachtet die Bedienung aus den Augenwinkeln. Wäre eine Möglichkeit. Zu blöd, dass Lee sie auf den ersten Blick eigentlich ganz sympathisch findet. Macht die Sache nicht einfacher.
'Hallo schöne Frau. So ganz allein und ohne Begleitung heute Nacht?'
Lee wendet sich dem schlecht rasierten Fettwanst zu, der sie angesprochen hat. Sein Holzfällerhemd spannt sich über seinem Bierbauch und sein Atem riecht nach billigem Schnaps.
'Schieb ab Dicker, ich brauch keine Gesellschaft.'
Der Fettwanst sieht Lee wie vom Donner gerührt an.
'Lass gut sein Harry, sie steht wahrscheinlich nicht auf echte Kerle wie dich.'
Harrys Kumpels an der Theke brechen in schallendes Gelächter aus und klopfen sich gegenseitig auf die Schultern, während er rot anläuft, Lee aber weiterhin ungeniert anstarrt. Lee erwidert seinen Blick mit kalten Augen.
'Blöde Schlampe‘, grummelt er, zieht seine Hose über den Wanst und stiefelt weiter in Richtung Waschräume.
Töte ihn. Er hat dich beleidigt. Töte ihn. Er ist Beute. Er ist ein Mensch. Er ist schwach. Töte ihn! Jetzt! Sofort!
Die Stimme hallt in Lees Gedanken wieder, und sie versucht sie zum Schweigen zu bringen. Dies ist nicht die Zeit und der Ort, sie muss sich beherrschen, sie...
...spürt, wie sie die Kontrolle verliert. Die pulsierende Ader am Hals des Mannes, sein gerötetes Gesicht - alles in ihr schreit danach, ihren
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