Die Fährte der Toten
inzwischen gut genug, um zu wissen, wann eine Diskussion keinen Sinn machte. Bestenfalls wurden ihre Einwände kalt lächelnd beiseite gewischt, schlimmstenfalls zeigte ihr Jennifer mit Leichtigkeit, was für eine kleine Idiotin sie in ihren Augen noch immer war.
Auf der Fahrt zu Jennifers Appartement im Zentrum der Stadt hatte sie noch einmal über die unzähligen Lektionen nachgedacht, die im vergangenen Jahr denen der ersten Nacht gefolgt waren. Jennifer war eine gute Lehrmeisterin. Gleichzeitig hatte sie sich nicht die geringste Mühe gegeben, auch nur einen Hauch Rücksicht auf Lees Befindlichkeiten zu nehmen. Ganz am Anfang hatte Lee den zaghaften Einwand gebracht, dass Frank sie schon über das ein oder andere aufgeklärt hätte. Den Einlauf, den ihr Jennifer daraufhin verpasst hatte, war wahrlich nicht von schlechten Eltern gewesen. Gefolgt von diversen scheinbar wahllosen Beispielen, wie Recht Jennifer doch hatte.
Ob es nun die Art und Weise war, wie sie sich unter Menschen bewegte ohne Aufsehen zu erregen oder wie sie auch in schwierigen Situationen an das rote Gold herankam – Lee war erst unter Jennifers Ägide bewusst geworden, wie rudimentär ihre Einsichten in ihre Existenzform waren.
Ein sanfter Ruck kündigt den Halt des Aufzugs an, und die Tür gleitet lautlos auseinander. Ein kühler Hauch und der Anblick des pechschwarzen Himmels signalisieren Lee, dass sie auf dem Dach angekommen ist. Sie tritt auf die Terrasse hinaus, während Ash einen Knopf drückt und die Tür, die die Welt der Lebenden von der der Toten trennt, wieder hinter ihr schließt.
***
Jennifer steht am Geländer und sieht in die Straßenschluchten hinab, während der Wind leicht an ihrem Kleid zerrt und den Stoff dazu bringt, sich wie eine zweite Haut an ihren Körper zu schmiegen. Sie beginnt zu sprechen, ohne den Blick von dem Szenario unter ihr abzuwenden.
'Sieh sie dir an. Wimmelnde kleine Ameisen. Immer in Bewegung. Was aussieht wie Chaos, hat doch Struktur. Allein sind sie so schwach und zerbrechlich. Aber gemeinsam können sie unglaubliche Dinge bewerkstelligen.'
‘Du verachtest sie genauso wie du sie bewunderst, nicht wahr?'
Jennifer dreht sich herum.
'Sieh an, du beginnst, die Dinge von mehreren Seiten zu betrachten. Das gefällt mir. Wie es scheint – ach, ich schweife ab. Du hast viel gelernt seit ich dich bei mir aufgenommen habe. Ich bin zufrieden mit dir. Deshalb will ich die Gunst erweisen, mir Fragen stellen zu dürfen, die dir schon lange auf dem Herzen liegen. Du sollst Antworten bekommen.'
Lee fühlt sich für einen Moment völlig überrumpelt. In der Tat gibt es da einige Themen, denen Jennifer immer elegant ausgewichen ist.
‚Fragen? Na da hab ich eine ganze Menge. Du hast nie über...uns gesprochen. Was wir sind. Ich meine - wo kommen wir eigentlich her? Sind wir aus der Hölle gekrochen? Oder vom Himmel gefallen? Ich kenn die Mythen, hab ein bisschen gelesen, aber das ist ja alles...'
Lee macht eine halb genervte, halb hilflose Handbewegung.
'Eine berechtigte Frage. Nehmen wir die Menschen und ihre Sicht der Dinge. Sie nannten es früher den Fluch. Würden sie noch von unserer Existenz wissen, so würden die meisten auch heute noch nichts als Monster in uns sehen. Vampire, Dämonen, Höllenengel, Nachtmahre. Es gab und gibt unzählige Namen und Bezeichnungen für unsere Art. Such dir den aus, der dir am besten zusagt. Ich habe schon lange aufgehört, in diesen Kategorien zu denken.
Die moderne Wissenschaft dagegen würde wohl die These aufstellen, dass wir eine Spielart der Evolution sind. Oder uns mit irgendetwas infiziert haben. Einem Virus zum Beispiel, das uns verwandelt und uns einige interessante neue Fähigkeiten geschenkt hat.
Die Religionen, die sich so viel darauf einbilden, alles zu erklären, was zwischen Himmel und Erde geschieht und was nicht Sache der Sterblichen ist, würden uns wahlweise zu Boten oder Dienern ihrer lächerlichen Götter machen. Dämonen für die einen, Engel für die anderen.
Unter dem Strich gibt es leider keine endgültige Antwort auf deine Frage. Ich muss dich leider enttäuschen.'
Lee nickt.
'Was glaubst du? Ich meine, was ist deine ganz eigene Sicht der Dinge?'
'Ich glaube, dass etwas mit dem Blut der Uralten geschehen ist, vor langer Zeit. Vielleicht war es ein Akt des Chaos, vielleicht war es Magie. Die Uralten mögen es wissen, doch sie hüllen sich in
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