Die Fährte der Toten
sicher.
Lee gibt der Leiche noch einen Tritt und hastet dann die Treppe hinunter in ihre Zuflucht. Sie rafft ein paar Habseligkeiten in eine Tasche und sieht sich noch einmal um. Kahle Wände. Nur ein paar Poster an den Wänden. Keine Heimat. Ein Ort wie tausend andere auch. Du bist auf der Durchreise, Süße. Gewöhn dich dran. Für Wesen wie dich gibt es kein Zuhause. Du bist eine Nomadin, die dahin geht, wohin der Wind sie treibt, ohne Ziel, nur der Ewigkeit verhaftet, an deren Ende irgendwann einmal der Tod warten mag. Und nicht einmal der ist dir sicher.
Sie schüttelt sich, schließt dann leise die Tür hinter sich und verschwindet in die Nacht, die sie wie ein schützender Mantel umhüllt und den Blicken der Menschen entzieht.
***
Lee zwingt sich, langsamer zu werden, während sie darüber grübelt, wie man sie finden konnte. Es gibt tausend Möglichkeiten, aber zu viele tragen das Etikett 'Zufall', und keine will ihr so richtig gefallen. Nein, diese Sache hat eine Handschrift. Und zwar eine, die ihr nicht gefällt. Weil sie sie kennt. Es gibt nur einen, der sie finden konnte.
Gettys.
Frank hat ihre Witterung aufgenommen, und jetzt ist er hinter ihr her. Nur macht das eigentlich keinen Sinn. Er hätte jemand anderes geschickt oder wäre selbst gekommen. Also wer steckt hinter diesem Angriff. Egal, jetzt ist keine Zeit, um darüber nachzudenken. Du musst untertauchen, denkt sie, da hatte Jennifer schon ganz Recht. Was weißt du, was ich nicht weiß? Hast du mich verraten? Oder kennst du den Verräter? Was hast du auf dieser Ausstellung gesehen, was dich so verstört hat? Warum hast du mir nicht mehr gesagt?
Ein Polizeifahrzeug rauscht an ihr vorbei. Die Leuchten auf dem Fahrerhaus blinken in regelmäßigen Abständen beim Versuch die Nacht zurückzudrängen, doch die Dunkelheit erobert ihr verlorenes Terrain sofort mit Leichtigkeit zurück. Das blaue Licht reflektiert in einer Schaufensterscheibe, und unwillkürlich wirft auch Lee einen Blick in das Glas. Ihr Spiegelbild starrt ihr entgegen, als wäre es eine Fremde.
Lee holt ihr Handy hervor und wählt eine Schnelltaste. Leises Piepen an ihrem Ohr signalisiert ihr, dass die Nummer gewählt wird. Ihr Zeigefinger tippt nervös gegen das Handy. Nun geh schon dran Süße.
‚Der angerufene Teilnehmer ist derzeit – ‚.
Lee spürt die Versuchung, das Handy an die Wand zu feuern, beherrscht sich aber mit Mühe und steckt es zurück in ihre Jackentasche. Das kann alles bedeuten und nichts. Egal, sie muss jetzt verschwinden. Sie vergewissert sich noch einmal, dass sie von niemand beobachtet wird, bevor die Luft für einen Moment zu flirren scheint und die Dunkelheit sie aufnimmt.
***
Jake zieht sich die Kapuze tiefer ins Gesicht und kratzt sich am Kinn. Das dauert alles schon viel zu lange. Der Regen prasselt ununterbrochen auf ihn herab. Schönes Dreckwetter! Und er muss auf dem Dach hocken, während Allen es sich drinnen schön gemütlich gemacht hat. Jake hatte losen wollen, aber die Ansage war eindeutig – er ist der bessere Scharfschütze, also ist er der Backup auf dem Dach. Da war nichts zu machen.
Wo bleibt nur die Hauptdarstellerin? Die letzte Ansage war, dass das Zielobjekt auf dem Weg sei und spätestens seit einer halben Stunde vor Ort sein müsste – wenn nicht irgendwas dazwischen gekommen sei. Gut, wenn es so ist, kann er eh nichts machen. Bis dahin wird er seine Position halten. Warum ist er nur so fahrig heute Nacht? Es ist ein ganz normaler Job. Jake wirft noch einmal einen Blick durch sein Zielfernrohr – perfekte Sicht. Wenn sie wider Erwarten abhauen sollte, wird sie die Straße herunterkommen. Dann kann er sie wegpusten wie auf dem Schießstand.
Eine Bewegung an der Seite des Hauses reißt ihn aus seinen Gedanken. Er wirft wieder einen Blick durchs Zielfernrohr. Verdammter Regen, und dazu noch absolutes Funkverbot. Wie soll er jetzt wissen, ob er die Richtige im Visier hat? Auf der anderen Seite – die Ansage war klar. Die Sache muss um jeden Preis durchgezogen werden. Kollateralschaden wird in Kauf genommen.
Jake konzentriert sich, bringt seine Atmung in einen regelmäßigen Rhythmus und visiert die Gestalt an, die mit zunächst hastigen, dann langsamer werdenden Schritten die Straße überquert und in seine Richtung kommt. Noch ein paar Schritte, dann…
…ist sie weg. Jakes Kopf ruckt hoch. Das kann doch nicht sein. Er flucht leise und schaut noch einmal
Weitere Kostenlose Bücher