Die Fährte der Toten
Außerdem weißt du ohnehin, dass sie tot ist, oder? Lee reibt sich die Augen und fühlt sich auf einmal unendlich müde. Eine Erinnerung schleicht sich in ihre Gedanken. Sie will sie beiseiteschieben, doch es gelingt ihr nicht.
Daryll, ihr nackter durchtrainierter Körper schweißgebadet, erschöpft neben Lee auf dem Rücken liegend, diesen seltsamen Ausdruck der Zufriedenheit im Gesicht. Diesen ganz speziellen Duft verströmend, den nur ein erhitzter menschlicher Körper verbreitet. Ihre Adern, die unter ihrer weichen Haut pulsieren. Der Geschmack ihres Blutes in Lees Mund. Dieses Aroma, das sie gleichzeitig so befriedigt hat und ihr doch immer wieder so fremd vorgekommen ist.
Mit starrem Blick betrachtet Lee, wie sich der Rauch ihrer bis zum Filter herunter gebrannten Zigarette vor dem Rückspiegel kräuselt.
Endstation. Bitte alles aussteigen.
Ihre Rechte tastet nach dem Knopf, und lautlos gleitet das Seitenfenster herunter. Mit einer bedächtigen Bewegung schnippt Lee den glühenden Stummel in die Nacht hinaus.
Asche zu Asche, Staub zu Staub. Der Herr hat es gegeben, Frank Gettys hat es genommen.
Mit einem freudlosen Lächeln lässt Lee den Motor an, und mit einem sachten Grollen rollt der schwere Wagen aus der Garage und in die Nacht davon, während ein kleines Mädchen, das am Straßenrand in den Schatten hockt, ihr mit einem seelenlosen Blick hinterherschaut.
Engel / 11
Die Kutte betrachtet regungslos das Haus, während der kühle Nachtwind an ihrer staubigen Kleidung zerrt. Hier hat der letzte Akt begonnen. Damals, als das Kind noch eine Sterbliche war und es den Lebenden als Zuflucht diente. Nun ist es ein langsam zerfallendes Grabmal, das von einer Untat kündet, die vor langer Zeit begangen wurde. Dem Verfall und dem Vergessen preisgegeben. Die wenigen, die noch von dem künden können, was hier geschah, sind inzwischen tot. Die restlichen werden es bald sein. Dann wird die Zeit den Mantel des Vergessens über dieses Drama breiten.
Ohne Hast betritt die Kutte die Veranda, die aussieht wie das Gerippe eines prähistorischen Tieres, das hier verendet ist und von dem nur noch die Knochen übriggeblieben sind. Ein kleiner Strauß Wildblumen liegt vertrocknet neben der Tür, aber die Kutte beachtet ihn nicht. Sie gibt der Tür einen leichten Schubser, die mit einem Quietschen den Weg ins Innere des Hauses freigibt. Ein Dielenbrett im Flur knarzt unter ihren Füssen, fast als würde es ob der Störung protestieren, dann ist es wieder gespenstisch still.
Die Kutte streift ein wenig durch die Räume, bis ihr Blick an einem Foto hängenbleibt, das an einer Wand angepinnt worden ist. Es zeigt eine Familie. Wohl die Eltern mit einem Kind, ein Junge im Teenager-Alter. Alle lächeln in die Kamera, ein Schnappschuss, aufgenommen an einem sonnigen Tag. Ein strahlend blauer Himmel bildet den Hintergrund vor einer Steinwüste. Von irgendwoher kommt ein sachter Windzug, der das Foto etwas flattern lässt. Wer auch immer das Foto gemacht hat, seine Gestalt bleibt hinter dem Sucher für immer verborgen.
Die Kutte betritt ein anderes Zimmer und verharrt. Das Kind - es war hier. Und es hat auf jemanden gewartet, der dann auch kam. Aber es gab keine Gewalt. Sie haben sich wieder getrennt. Sie kann seine Anwesenheit spüren, genauso wie die des anderen - blasse Abdrücke, die bald endgültig verwehen werden. Ein Mann, dessen Namen keine Rolle spielt. Und sie. Das Kind, das bald in das Reich der Toten eingetreten wird, wenn alles seinen vorherbestimmten Gang nehmen wird.
So wie es schon vor Jahrhunderten hätte geschehen sollen. Catherine, sein Kind – sie war so nah wie noch keine vor ihr. Und doch hat sie es nicht geschafft. Der letzte Schritt – er blieb ihr verwehrt. Kurz verspürt die Kutte einen inneren Unwillen. Stattdessen hatte das Gesetz unbeachtet von ihm seinen Plan weiterverfolgt. Und fast wäre sie erfolgreich gewesen. Doch er hatte seinen Fehler noch früh genug bemerkt. Und nun ist wieder alles offen.
Mit gemessenen Schritten betritt die Kutte den nächsten Raum. Das elterliche Schlafzimmer. Nachdenklich verharrt die Kutte vor dem Bett. Dann greift sie in die Schublade eines alten Schränkchens und holt ein kleines Kästchen hervor. Es ist offenbar dort versteckt und dann vergessen worden. In dem Kästchen befindet sich ein mattgoldener Ring.
Das Wesen nimmt den Ring und betrachtet ihn nachdenklich. Vor langer Zeit war es sein. Bis man es ihm
Weitere Kostenlose Bücher