Die Fährte
Kleider und ein Bett mit Decke, aber ohne Laken.
Harry zog die Küchenhandschuhe an, die Øystein mitgebracht hatte, und trug einen der Campingstühle in den Flur. Er stellte ihn vor den hohen Wandschrank, der bis an die drei Meter hohe Decke reichte, schüttelte alle Gedanken aus seinem Kopf und stieg vorsichtig auf den Stuhl. Im gleichen Moment klingelte das Telefon. Harry versuchte, sich mit dem anderen Fuß abzustützen, der Stuhl klappte zusammen und Harry ging polternd zu Boden.
Tom Waaler hatte ein schlechtes Gefühl. Der Situation fehlte die Voraussagbarkeit, die er zu jeder Zeit anstrebte. Da seine Karriere und seine Zukunft nicht bloß in seinen Händen lagen, sondern auch in den Händen derer, mit denen er Allianzen bildete, war der menschliche Faktor ein Risiko, das er ständig berücksichtigen musste. Und das schlechte Gefühl rührte daher, dass er im Augenblick nicht wusste, ob er Beate Lønn, Rune Ivarsson oder – und das war das Übelste – dem Mann trauen konnte, der seine wichtigste Einnahmequelle war: Knecht.
Als Tom erfahren hatte, dass die Stadtverwaltung nach dem Überfall im Grenlandsleiret Druck auf den Polizeipräsidenten ausübte, den Exekutor endlich zu fassen, hatte er Knecht den Befehl gegeben, in Deckung zu gehen. Sie hatten sich auf einen Platz geeinigt, den Knecht von früher kannte. Pattaya bot im asiatischen Raum die größte Ansammlung von in der westlichen Welt gesuchten Verbrechern und lag überdies nur einige wenige Autostunden südlich von Bangkok. Als weißer Tourist konnte Knecht in der Menge untertauchen. Knecht hatte Pattaya als das »Sodom Asiens« bezeichnet, weshalb Waaler nicht verstehen konnte, warum er plötzlich wieder in Oslo aufgetaucht war und gesagt hatte, er halte es dort unten einfach nicht mehr aus.
Waaler blieb an der Uelandsgate an einer roten Ampel stehen und blinkte nach links. Ein schlechtes Gefühl. Den letzten Überfall hatte Knecht begangen, ohne sich vorher mit ihm zu besprechen, und das war ein schwerwiegender Verstoß gegen die Regeln. Da musste er wohl etwas unternehmen.
Er hatte gerade versucht, bei Knecht zu Hause anzurufen, hatte aber keine Antwort erhalten. Das konnte alles und nichts bedeuten. Zum Beispiel, dass er in seiner Hütte in Tryvann war und die Details des Überfalls auf den Geldtransporter überarbeitete, über den sie gesprochen hatten. Oder dass er das Material checkte – Kleider, Waffen, Polizeifunkempfänger, Zeichnungen. Es konnte aber auch bedeuten, dass er wieder rückfällig geworden war und zu Hause mit einer Spritze im Unterarm in einer Ecke lag.
Waaler fuhr langsam durch die dunkle, schmutzige Sackgasse, in der Knecht wohnte. Ein wartendes Taxi parkte auf der anderen Straßenseite. Waaler sah zu den Fenstern der Wohnung empor. Seltsam, da war Licht. Wenn Knecht wieder auf Drogen war, war die Hölle los. In die Wohnung zu kommen war eine Kleinigkeit, Knecht hatte bloß ein einfaches Scheißschloss. Er sah auf die Uhr. Der Besuch bei Beate hatte ihn erregt, und er wusste, dass er so bald nicht würde schlafen können. Vielleicht sollte er noch ein bisschen herumfahren, ein paar Leute anrufen und sehen, was passierte.
Waaler drehte Prince lauter, gab Gas und fuhr den Ullevålsvei hinauf.
Harry saß, den Kopf auf die Hände gestützt, auf dem Campingstuhl. Seine Hüfte schmerzte und er hatte nicht die Spur eines Beweises, dass Alf Gunnerud der Mann war. Es hatte bloß zwanzig Minuten gedauert, das wenige Hab und Gut in der Wohnung zu durchsuchen, so dass einem fast der Verdacht kommen konnte, Gunnerud wohne eigentlich woanders. Im Bad hatte Harry eine Zahnbürste gefunden, eine fast leere Tube Solidox-Zahncreme und ein Stück unidentifizierbare Seife, die in einer Schale klebte. Sowie ein Handtuch, das vielleicht einmal weiß gewesen war. Das war's. Mehr gab es nicht. Das war seine Chance gewesen.
Harry hätte weinen können. Mit dem Kopf gegen die Wand hämmern. Den Hals einer Jim-Beam-Flasche abschlagen und Schnaps und Glasscherben trinken. Denn es musste – musste – Gunnerud sein. Statistisch gesehen gab es unter allen Indizien gegen eine Person eine Form von Hinweis, die allen anderen überlegen war — nämlich frühere Verurteilungen und Verdachtsmomente. Die ganze Sache schrie nach Gunnerud. Er hatte Drogen und Waffengebrauch in seinem Strafregister, arbeitete bei einem Schlüsseldienst und konnte alle Arten von Systemschlüsseln bestellen, so auch für die Wohnung von Anna oder Harry.
Harry
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