Die Fährte
trat ans Fenster. Dachte darüber nach, dass er sich schon einmal festgefahren hatte und dem Manuskript eines alten Mannes auf Punkt und Komma gefolgt war. Aber es gab keine weiteren Anleitungen mehr, keine Repliken. In einem Riss in der Wolkendecke tauchte der Mond auf und sah aus wie eine halb gegessene Fluortablette, doch nicht einmal der konnte ihm etwas einflüstern.
Er schloss die Augen. Konzentrierte sich. Was hatte er in der Wohnung gesehen, das ihm weiterhelfen konnte? Was hatte er übersehen? Er ging in Gedanken alles noch einmal durch, Stück für Stück.
Nach drei Minuten gab er auf. Das war's. Hier war nichts.
Er überprüfte, dass alles so war wie bei seinem Kommen, und machte das Wohnzimmerlicht aus. Dann ging er in die Toilette, stellte sich vor die Kloschüssel und öffnete seine Hose. Wartete. Mein Gott, jetzt konnte er nicht einmal mehr das. Dann kam es und er seufzte müde. Er zog ab, und das Wasser rauschte durch die Schüssel, als ihm kalt und heiß wurde. Hatte er beim Rauschen des Wassers eine Hupe gehört? Er ging in den Flur und schloss die Badezimmertür, um besser hören zu können. Da war es. Ein kurzes, hartes Hupen unten von der Straße. Gunnerud war auf dem Weg! Harry stand bereits an der Tür, als es ihm in den Sinn kam. Natürlich musste ihm das jetzt einfallen. Jetzt, da es zu spät war. Das rauschende Wasser. Der Pate. Die Pistole. »Das ist irgendwie mein Lieblingsversteck.«
»Scheiße, Scheiße!« Harry rannte wieder in die Toilette, packte den Knopf oben am Spülkasten und begann frenetisch zu drehen. Rostige Gewinde kamen zum Vorschein. »Schneller!«, flüsterte er, drehte die Hand und spürte sein Herz beschleunigen, während sich die verdammte Stange mit müdem Kreischen drehte, ohne sich jedoch lösen zu wollen. Unten im Treppenhaus hörte er eine Tür ins Schloss fallen. Dann löste sich die Stange und er konnte den Deckel des Behälters abnehmen. Der raue Laut von Porzellan auf Porzellan ertönte, während das Wasser im Kasten noch immer stieg. Harry schob die Hand hinein und fuhr mit den Fingern über den glitschigen Belag der Innenseite. Was zum Teufel? Nichts? Er drehte den Deckel des Spülkastens um. Und da war es. Festgeklebt an der Unterseite. Er holte tief Luft. Den Schlüssel unter dem durchsichtigen Klebestreifen kannte er nur zu gut, jede Kerbe, jede Vertiefung. Es war Harrys Haustürschlüssel, der Schlüssel zum Keller und zu seiner Wohnung. Das Bild daneben war ihm nicht weniger bekannt. Das vermisste Bild über dem Spiegel. Søs lächelte, und Harry versuchte, ernsthaft auszusehen. Sonnengebräunt und glücklich unwissend. Das weiße Pulver in dem Plastikbeutel, der mit drei Streifen schwarzem Tape daneben befestigt war, kannte er hingegen nicht, doch er war bereit, eine ansehnliche Summe darauf zu wetten, dass es sich dabei um Diacetylmorphin handelte, besser bekannt als Heroin. Viel Heroin. Heroin für sechs Jahre ohne Bewährung, mindestens. Harry fasste nichts an, sondern setzte den Deckel wieder auf den Spülkasten und begann zu schrauben, während er auf Schritte lauschte. Wie Beate schon gesagt hatte, die Beweise wären keinen Pfifferling mehr wert, wenn man herausbekam, dass Harry ohne Durchsuchungsbefehl in der Wohnung war. Dann war der Knopf wieder fest und er lief zur Wohnungstür. Ihm blieb keine Wahl, er öffnete und trat auf den Treppenabsatz. Schlurfende Schritte waren auf dem Weg nach oben. Er schloss die Tür leise, blickte über das Geländer und sah auf einen dichten, dunklen Haarschopf. In fünf Sekunden würde er Harry zu Gesicht bekommen. Doch drei lange Schritte hinauf in die sechste Etage hätten gereicht, um Harry außer Sichtweite zu bringen.
Der junge Mann blieb abrupt stehen, als er Harry vor sich auf dem Treppenabsatz sitzen sah.
»Hei, Alf«, sagte Harry und warf einen Blick auf die Uhr. »Ich habe auf dich gewartet.«
Der Typ starrte ihn mit großen Augen an. Das blasse, sommersprossige Gesicht war von halblangen, fettigen Haaren in Liam-Gallagher-Schnitt eingerahmt und ließ Harry nicht an einen hartgesottenen Killer denken, sondern eher an einen Jungen, der Angst vor der nächsten Tracht Prügel hatte.
»Was willst du?«, fragte er mit lauter, heller Stimme.
»Dass du mich ins Polizeipräsidium begleitest.«
Der Mann reagierte sofort. Er drehte sich um, ergriff das Geländer und sprang auf den darunter liegenden Treppenabsatz. »He!«, rief Harry, doch Alf war bereits aus seinem Blickfeld verschwunden. Die schweren
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