Die Fährte
die Nachbarschaft gemacht.
Harry sah zu dem Garten auf der anderen Seite der Straße hinüber.
Sie hatten bereits die Taschen voll gehabt, als er das Gesicht bemerkte, das sie durch das erleuchtete Fenster in der ersten Etage anstarrte. Ohne ein Wort zu sagen. Es war Dis.
Harry öffnete das Gartentor und ging zur Tür. J ø rgen und Kristin Lønn stand auf dem Porzellanschild über den Klingelknöpfen. Harry klingelte im ersten Stock.
Beate antwortete erst, nachdem er zweimal geklingelt hatte.
Sie fragte ihn, ob er einen Tee wolle, aber er schüttelte den Kopf, und sie verschwand in der Küche, während er im Flur die Stiefel auszog.
»Warum steht der Name deines Vaters noch immer auf dem Klingelknopf?«, fragte er, als sie mit einer Tasse ins Wohnzimmer kam. »Damit Unbekannte glauben, dass ein Mann im Haus wohnt?«
Sie zuckte mit den Schultern und machte es sich in einem tiefen Sessel bequem. »Wir sind einfach nie auf die Idee gekommen, das Schild auszutauschen. Sein Name steht da wohl schon so lange, dass wir ihn gar nicht mehr bemerken.«
»Hm.« Harry presste seine Handflächen aneinander. »Genau darüber wollte ich eigentlich mit dir sprechen.«
»Über das Türschild?«
»Nein. Über Dysosmie. Über das Phänomen, keine Leichen riechen zu können.«
»Was meinst du?«
»Ich stand gestern bei mir im Flur und blickte auf die erste Mail, die ich von Annas Mörder bekommen habe. Das war genau wie mit deinem Türschild. Die Sinne registrieren es, aber nicht das Gehirn. Das ist wie bei Dysosmie. Der Ausdruck der Mail hing dort schon so lange, dass ich ihn gar nicht mehr gesehen habe, genau wie das Bild von Søs und mir. Als das Bild weg war, habe ich nur bemerkt, dass etwas verändert war, aber nicht, was. Und weißt du, warum?«
Beate schüttelte den Kopf.
»Weil nichts geschehen war, das mich veranlasst hätte, die Dinge anders zu sehen. Ich sah nur das, was ich immer gesehen habe, was ich für möglich hielt. Aber gestern ist etwas geschehen. Ali sagte mir, er habe eine unbekannte Frau vor unserer Kellertür gesehen. Leider nur von hinten. Und da ging mir auf, dass ich bis jetzt immer davon ausgegangen bin, dass es ein Mann gewesen sein muss, der Anna getötet hat. Wenn man den Fehler macht, sich vorzustellen, was man zu suchen glaubt, sieht man die Dinge nicht, die man findet. Und das hat mich die Mail mit anderen Augen sehen lassen.«
Beates Augenbrauen verzogen sich zu einem Fragezeichen. »Willst du damit sagen, dass es nicht Alf Gunnerud war, der Anna Bethsen getötet hat?«
»Weißt du, was ein Anagramm ist?«, fragte Harry.
»Ein Buchstabenspiel …«
»Annas Mörder hat mir ein patrin hinterlassen. Ein Anagramm. Ich habe es im Spiegel entdeckt. Die Mail war mit einem Frauennamen unterschrieben. Spiegelverkehrt. Also schickte ich die Mails zu Aune, der einen Spezialisten für kognitive Psychologie und Sprache hinzuzog. Dem ist es schon gelungen, aus einem einzigen Satz eines anonymen Drohbriefes herauszulesen, ob Mann oder Frau, wie alt und aus welcher Gegend. In diesem Fall ist er zu dem Ergebnis gekommen, dass die Briefe von einer Person zwischen zwanzig und siebzig geschrieben sein mussten, entweder Mann oder Frau und möglicherweise aus dem ganzen Land. Mit anderen Worten, keine große Hilfe. Abgesehen davon, dass er meinte, dass es sich vermutlich um eine Frau handele. Auf Grund eines ganz bestimmten Wortes. Dort steht nämlich ›ihr Typen von der Polizei‹ statt ›ihr Polizisten‹ oder ›ihr von der Polizei‹. Er meinte, dass der Absender unbewusst diesen Ausdruck gewählt haben kann, weil der einen Unterschied zwischen dem Geschlecht des Absenders und des Empfängers macht.«
Harry lehnte sich auf dem Stuhl zurück.
Beate stellte die Tasse ab. »Ich kann nicht gerade sagen, dass ich überzeugt bin, Harry. Eine nicht identifizierte Frau im Treppenhaus, ein Code, aus dem man rückwärts einen Frauennamen bilden kann, und ein Psychologe, der der Ansicht ist, Alf Gunnerud habe sich einer eher weiblichen Ausdrucksweise bedient.«
»Hm.« Harry nickte. »Einverstanden. Aber ich wollte zuerst erzählen, was mich auf die Spur gebracht hat. Doch bevor ich dir sage, wer Anna Bethsen ermordet hat, will ich dich fragen, ob du mir helfen kannst, eine vermisste Person zu suchen?«
»Selbstverständlich. Aber warum mich? Vermisste Personen sind nicht gerade mein …«
»Doch«, sagte Harry traurig lächelnd. »Vermisste Personen sind dein Feld.«
Kapitel 43 –
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