Die Fährte
dachte lange nach, ehe er antwortete: »Ich weiß es nicht mehr. Das war eine Zeit in meinem Leben, die sehr … im Nebel liegt.«
Sie streichelte ihm über die Wange. »Weißt du, was mir immer so komisch vorkommt, wenn ich daran denke? Diese Frau, die ich ja nie kennen gelernt oder gesehen habe, ist in deine Wohnung gegangen und darin herumgelaufen. Sie muss das Bild von uns dreien am Frognerseteren gesehen haben, das an deinem Spiegel hängt, und gewusst haben, dass sie das alles kaputtmachen wird. Und trotzdem habt ihr zwei euch vielleicht geliebt.«
»Hm. Sie hatte alle Details geplant, bevor sie von Oleg und dir wusste. Alis Unterschrift hatte sie sich bereits im letzten Sommer besorgt.«
»Und überleg doch mal, wie sie sich als Linkshänderin an dieser Unterschrift abgemüht haben muss.«
»Daran habe ich gar nicht gedacht.« Er drehte seinen Kopf auf ihrem Schoß und sah sie an. »Sollen wir nicht über etwas anderes reden? Was meinst du, soll ich meinen Vater anrufen und fragen, ob wir im Sommer in das Haus in Åndalsnes gehen können? In der Regel ist da Scheißwetter, aber es hat ein Bootshaus und da liegt auch noch das Ruderboot von meinem Großvater.«
Rakel lachte. Harry schloss die Augen. Er liebte dieses Lachen. Es war möglich, dass er, wenn er jetzt keinen Fehler machte, dieses Lachen lange, vielleicht sehr lange würde hören können.
Harry schrak aus dem Schlaf auf. Richtete sich im Bett auf und rang nach Atem. Er hatte geträumt, doch er wusste nicht mehr, was. Sein Herz klopfte wie eine Pauke. Hatte man ihn wieder in diesem Pool in Bangkok unter Wasser gedrückt? Oder hatte er wieder vor dem Attentäter in der Suite des SAS-Hotels gestanden? Sein Kopf schmerzte. »Was ist los?«, murmelte Rakel schläfrig.
»Nichts«, flüsterte Harry. »Schlaf nur.«
Er stand auf, ging ins Bad und trank einen Schluck Wasser. Das müde Gesicht im Spiegel blinzelte ihn leichenblass an. Draußen war es windig. Die Zweige der großen Eiche im Garten kratzten an der Hauswand. Stachen ihm in die Schulter. Kitzelten ihn im Nacken, so dass sich dort seine Haare aufstellten. Harry füllte sich das Glas noch einmal und trank langsam. Jetzt erinnerte er sich. Was er geträumt hatte. Ein Junge, der auf dem Dach der Schule gesessen und mit den Beinen geschlenkert hatte. Der die Stunde geschwänzt hatte. Der seinen kleinen Bruder die Aufsätze schreiben ließ und der der neuen Freundin seines Bruders all die Plätze gezeigt hatte, an denen sie als Kinder gespielt hatten. Harry hatte das Rezept einer Tragödie geträumt.
Als er wieder unter die Decke kroch, schlief Rakel. Er heftete seinen Blick an die Decke und wartete auf die Dämmerung.
Die Uhr auf dem Nachttischchen zeigte 5.03 Uhr, als er es nicht mehr aushielt, aufstand, die Auskunft anrief und die Nummer von Jean Hue verlangte.
Kapitel 48 – Heinrich Schirmer
Beate erwachte, als es zum dritten Mal klingelte.
Sie drehte sich auf die Seite und blickte auf die Uhr. Viertel nach fünf. Sie blieb liegen und fragte sich, was wohl am schlausten war – aufzustehen und ihn zum Teufel zu wünschen oder so zu tun, als ob sie nicht zu Hause wäre. Es klingelte wieder und dieses Mal in einer Art und Weise, die ihr klar zu verstehen gab, dass er nicht vorhatte, klein beizugeben.
Sie seufzte, stand auf und warf sich den Morgenmantel um. Dann nahm sie den Hörer der Sprechanlage.
»Ja?«
»Sorry, dass ich so spät noch klingle, Beate. Oder so früh!«
»Fahr zur Hölle, Tom!«
Eine lange Pause entstand.
»Hier ist nicht Tom«, sagte die Stimme. »Ich bin's, Harry.«
Beate fluchte leise und drückte auf den Türöffner.
»Ich konnte einfach nicht mehr wach liegen bleiben«, sagte Harry, als er in der Wohnung war. »Es geht um den Exekutor.«
Er setzte sich aufs Sofa, während Beate im Schlafzimmer verschwand.
»Das mit Waaler geht mich ja nichts an, aber …«, rief er in Richtung der geöffneten Schlafzimmertür.
»Wie du schon sagst, das geht dich nichts an«, kam es zurück. »Außerdem ist er suspendiert.«
»Ich weiß. Ich wurde von der internen Ermittlung über meine Verbindung zu Alf Gunnerud ausgefragt.«
Sie kam in einem weißen T-Shirt und einer Jeans zurück und baute sich vor ihm auf. Harry blickte zu ihr auf.
»Ich meinte, er ist von mir suspendiert worden«, sagte sie.
»Ach?«
»Er ist ein Drecksack. Aber dass du Recht hast, bedeutet nicht, dass du irgendwelchen Leuten immer alles Mögliche über andere sagen
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