Die Fährte
kannst.«
Harry legte den Kopf zur Seite und kniff die Augen zusammen.
»Soll ich es noch einmal wiederholen?«, fragte sie.
»Nein«, erwiderte er. »Ich glaube, ich hab's begriffen. Und wenn es nicht irgendwelche Leute sind, sondern Freunde?«
»Kaffee?« Aber es gelang Beate nicht, sich rechtzeitig umzudrehen, ehe sich die Röte über ihr Gesicht ausbreitete. Harry stand auf und folgte ihr. Ein einziger Stuhl stand an dem kleinen Küchentisch. An der Wand hing eine bemalte Holzplakette mit einem von Rosen umkränzten alten Haussegen.
»Rakel hat gestern Abend zwei Sachen gesagt, die mich nachdenklich gemacht haben«, sagte Harry und beugte sich über den Küchentisch. »Das Erste war, dass zwei Brüder, die die gleiche Frau lieben, das Rezept für eine Tragödie sind. Das andere war, dass Anna größte Schwierigkeiten gehabt haben muss, Alis Unterschrift zu fälschen, da sie ja Linkshänderin war.«
»Ja und?« Sie schaufelte mit einem Messlöffel Kaffeepulver in den Filter der Maschine.
»Diese Schulhefte von Lev, die du von Trond Grette bekommen hast, um sie mit der Schrift auf dem Abschiedsbrief zu vergleichen – erinnerst du dich noch, welches Fach das war?«
»Ich habe nicht so genau darauf geachtet, ich weiß nur noch, dass ich überprüft habe, ob sie wirklich von ihm waren.« Sie goss Wasser in den Tank.
»Es war Norwegisch«, sagte Harry.
»Vielleicht«, sagte sie und wandte sich ihm zu.
»Ganz sicher«, sagte Harry. »Ich komme gerade von Jean Hue.«
»Dem Graphologen? Jetzt, mitten in der Nacht?«
»Er hat sein Büro zu Hause und hatte Verständnis. Er hat das Schulheft und den Abschiedsbrief mit dem hier verglichen.«
Harry breitete einen Zettel aus und legte ihn auf den Küchentisch. »Dauert das lange mit diesem Kaffee?«
»Gibt es irgendetwas Eiliges?«, fragte Beate und betrachtete den Zettel.
»Alles ist eilig«, sagte Harry. »Das Erste, was du tun musst, ist, noch einmal die Bankkonten zu überprüfen.«
Es kam durchaus vor, dass Eise Lund, Geschäftsführerin und eine von zwei Angestellten des Reisebüros Brastour, nachts von Kunden angerufen wurde, die in Brasilien ausgeraubt worden waren, Pass oder Ticket verloren hatten und in ihrer Verzweiflung ihre Handynummer wählten, ohne an den Zeitunterschied zu denken. Deshalb schaltete sie nachts ihr Handy aus. Und deshalb war sie auch reichlich verärgert, als um halb sechs ihr Festanschluss klingelte und die Stimme am anderen Ende sie bat, so schnell wie möglich ins Geschäft zu kommen. Ihre Stimmung hellte sich nur unwesentlich auf, als sich die Stimme dann noch als die eines Polizisten zu erkennen gab.
»Ich hoffe, es geht wirklich um Leben und Tod«, sagte Eise Lund.
»Das tut es«, sagte die Stimme. »Vorwiegend um Tod.«
Rune Ivarsson war wie gewöhnlich der Erste auf der Dienststelle. Er starrte aus dem Fenster. Er mochte die Stille, er mochte es, die ganze Etage für sich zu haben, aber nicht allein deshalb. Wenn die anderen kamen, hatte Ivarsson bereits alle Faxe gelesen, die Berichte des Vorabends und alle Zeitungen und sich so den Vorsprung verschafft, den er brauchte. Darum ging es schließlich, wenn man Chef war – man musste den Überblick haben, sich selbst eine Art Kommandobrücke schaffen, von der aus man einen erhöhten Standort hatte. Wenn seine Untergebenen in der Abteilung manchmal ihrer Frustration darüber Luft machten, dass die Leitung Informationen zurückhielt, begriffen sie eben einfach nicht, dass Wissen Macht ist, und dass die Abteilungsleitung Macht haben musste, wenn sie den Kurs abstecken wollte, der sie schließlich in den Hafen führen sollte. Ja, dass es im Grunde zu ihrem Besten war, das Wissen der Leitung zu überlassen. Wenn er jetzt den Befehl gab, dass alle, die am Fall Exekutor arbeiteten, ihm direkt berichten sollten, so geschah dies, um das Wissen dort zu konzentrieren, wo es hingehörte, statt die Zeit mit endlosen Plenumsdiskussionen zu vergeuden, die einzig und allein den Sinn hatten, den Untergebenen das Gefühl zu geben, irgendwie beteiligt zu sein. Gerade jetzt war es wichtig, dass er sich als Chef profilierte und Initiative und Durchsetzungsvermögen zeigte. Auch wenn er alles darangesetzt hatte, die Beweise gegen Lev Grette wie sein eigenes Verdienst aussehen zu lassen, wusste er doch, dass die Art und Weise, wie alles geschehen war, seine Autorität geschwächt hatte. Die Autorität der Leitung war keine Frage des persönlichen Prestiges, sondern ein Anliegen der
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