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Die Fährte

Die Fährte

Titel: Die Fährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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beim Frühstück. Olegs Zeichnung auf der Tür des Kühlschranks: drei Menschen, die sich an den Händen hielten, und die Buchstaben HARY unter der Figur, die bis zur Sonne unter dem wolkenlosen Himmel emporragte.
    Harry stand von seinem Stuhl auf, nahm den Zettel mit ihrer Nummer vom Telefontischchen und tippte die Handynummer. Es klingelte viermal, ehe jemand am anderen Ende den Hörer abnahm.
    »Hei, Harry.«
    »Hei. Woher wusstest du, dass ich das bin?«
    Ein leises, tiefes Lachen. »Wo bist du die letzten Jahre gewesen, Harry?«
    »Hier. Und dort. Wieso? Hab ich mich wieder lächerlich gemacht?«
    Sie lachte lauter.
    »Ach ja, du kannst meine Nummer auf dem Display lesen. Dumm von mir.« Harry merkte, wie blöd das klang, aber das machte nichts, das Wichtigste war, dass er gesagt bekam, was er sagen wollte, und dann auflegte. Ene mene mu. »Hör mal, Anna, was heute Abend angeht …«
    »Sei nicht kindisch, Harry!«
    »Kindisch?«
    »Ich bin dabei, das beste Curry des Jahrhunderts zu machen. Und wenn du Angst hast, ich könnte dich verführen, muss ich dich enttäuschen. Ich meine nur, wir schulden einander ein paar Stunden Zeit bei einem guten Essen. Um ein bisschen zu reden. Missverständnisse von damals auszuräumen. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht, um einfach ein bisschen zu lachen. Hast du an das Japone-Chili gedacht?«
    »Tja, äh, ja.«
    »Gut! Punkt acht, Okay?«
    »Ähh …«
    »Gut.«
    Harry starrte noch auf den Hörer, als sie schon aufgelegt hatte.
     

 
     
     

    Kapitel 8 – Jalalabad
     
    »Ich werde dich töten«, sagte Harry und umklammerte den kalten Stahl des Gewehres noch härter. »Nur, damit du es weißt. Denk ein bisschen darüber nach. Mund auf!« Die Menschen um ihn herum waren Wachsfiguren. Unbeweglich, seelenlos und entmenscht. Harry schwitzte hinter der Maske. Das Blut pochte an seinen Schläfen und jedes Pochen hinterließ einen dumpfen Schmerz. Er wollte die Menschen um sich herum nicht ansehen, wollte ihren anklagenden Blicken nicht begegnen.
    »Pack das Geld in eine Tüte«, sagte er zu der gesichtslosen Person vor sich. »Und zieh dir die Tüte über den Kopf.«
    Der Gesichtslose begann zu lachen, und Harry drehte das Gewehr um und schlug mit dem Kolben gegen seinen Kopf, verfehlte aber sein Ziel. Jetzt begannen auch die anderen im Raum zu lachen und Harry betrachtete sie durch die unregelmäßig geschnittenen Löcher seiner Maske. Sie wirkten auf einmal so bekannt. Das Mädchen am zweiten Schalter sah aus wie Brigitta. Und der farbige Mann am Automaten für die Wartenummern sah Andrew verflucht ähnlich. Und die Frau mit den weißen Haaren mit dem Kinderwagen …
    »Mutter?«, flüsterte er.
    »Wollen Sie Geld oder nicht?«, fragte der Gesichtslose. »Noch fünfundzwanzig Sekunden.«
    »Ich bestimme hier, wie lange es dauert!«, brüllte Harry und rammte den Gewehrlauf in seinen schwarzen, offenen Mund. »Du bist das, ich habe das die ganze Zeit über gewusst. In sechs Sekunden wirst du sterben. Du solltest Angst haben.«
    Ein Zahn hing an einer Hautfaser und Blut rann aus dem Mund des Gesichtlosen, doch er sprach, als würde er all dies nicht merken: »Ich kann es nicht gutheißen, aufgrund persönlicher Ansichten Einzelner über Zeit und Ressourcen zu disponieren.« Irgendwo begann frenetisch ein Telefon zu klingeln.
    »Hab jetzt Angst! Angst, wie sie sie hatte!«
    »Vorsichtig, Harry, lass das nicht zu einer fixen Idee werden!« Harry spürte den Mund am Gewehrkolben.
    »Sie war eine Polizistin, du Arsch! Sie war meine beste …« Die Maske klebte sich an Harrys Mund und erschwerte ihm das Atmen. Doch die Stimme des Gesichtslosen mahlte unverdrossen weiter: »Hat sich davongemacht.«
    »… Freundin.« Harry drückte den Abzug bis zum Anschlag, doch nichts geschah. Er öffnete die Augen.
    Das Erste, was Harry dachte, war, dass er bloß kurz eingenickt war. Er saß in dem gleichen grünen Ohrensessel und starrte auf den toten TV-Schirm. Aber der Anzug war neu. Er lag über ihm und verdeckte die Hälfte seines Gesichts. Er hatte den Geschmack des nassen Leinenstoffs im Mund. Und das Tageslicht erfüllte das Wohnzimmer. Dann spürte er den Hammer. Er traf einen Nerv unmittelbar hinter seinen Augen, wieder und wieder mit gnadenloser Präzision. Das Resultat war ein gleichermaßen auffallender wie bekannter Schmerz. Er versuchte zu rekapitulieren. War er bei Schröder gelandet? Hatte er bei Anna zu trinken begonnen? Doch es war, wie er es befürchtet hatte: schwarz. Er

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