Die Fährte
bekommen«, sagte Harry und zeigte mit dem Finger auf das Foto. »Eigentlich fehlt nur noch die Flucht. Er ist ein Profi, ruhig und entschlossen, und es gibt keinen Grund mehr, irgendjemandem Angst zu machen oder etwas erzwingen zu wollen. Trotzdem wartet er mit der Flucht noch ein paar Sekunden, um die Bankangestellte zu erschießen. Bloß weil der Filialleiter sechs Sekunden zu lange brauchte, um den Geldautomaten zu leeren.«
Aune beschrieb mit dem Löffel langsam eine Acht in seinem Tee. »Und jetzt fragst du dich, was sein Motiv sein mochte?«
»Tja. Es gibt immer ein Motiv, aber es ist nicht leicht zu wissen, auf welcher Seite der Vernunft man mit der Suche beginnen soll. Dein erster Eindruck?«
»Schwere Persönlichkeitsstörung.«
»Aber er wirkt in allem anderen so rational.«
»Persönlichkeitsstörung bedeutet nicht, dass man dumm ist. Menschen mit solchen Störungen sind klug, manchmal sogar klüger als zuvor, um das zu erreichen, was sie wollen. Was sie von uns unterscheidet, ist das, was sie wollen.«
»Wie sieht es mit Drogen aus? Gibt es irgendeinen Stoff, der eine ansonsten normale Person so aggressiv machen kann, dass sie tötet?«
Aune schüttelte den Kopf. »Ein Drogenrausch verstärkt bloß Neigungen, die man schon hat. Wer seine Frau in betrunkenem Zustand schlägt, denkt sicher auch nüchtern oft daran, Gewalt gegen sie auszuüben. Menschen, die einen vorsätzlichen Mord wie diesen hier begehen, neigen in der Regel beständig dazu.«
»Du sagst also, dass dieser Typ vollkommen verrückt ist?«
»Oder programmiert.«
»Programmiert?«
Aune nickte. »Erinnerst du dich an den Bankräuber, der niemals gefasst wurde, Raskol Baxhet?«
Harry schüttelte den Kopf.
»Ein Zigeuner«, sagte Aune. »Lange Jahre kursierten Gerüchte über diese mystische Figur, die das eigentliche Hirn all der großen Überfälle auf Geldtransporter und Wechselzentralen in Oslo in den achtziger Jahren gewesen sein soll. Es dauerte viele Jahre, bis die Polizei begriff, dass er tatsächlich existierte, doch selbst da gelang es ihnen nicht, irgendwelche Beweise gegen ihn zu finden.«
»Jetzt dämmert mir etwas«, sagte Harry. »Aber wenn ich mich nicht täusche, wurde er gefasst?«
»Falsch. Das Einzige, was man hatte, waren zwei Bankräuber, die gegen Strafermäßigung bereit waren, gegen ihn auszusagen, doch die verschwanden plötzlich unter geheimnisvollen Umständen.«
»Nicht ungewöhnlich«, sagte Harry und zog ein Päckchen Camel-Zigaretten aus seiner Tasche.
»Wenn sie im Gefängnis sitzen, schon«, sagte Aune.
Harry pfiff leise. »Ich meine trotzdem, dass er im Bau sitzt.«
»Und das stimmt auch«, sagte Aune. »Aber er wurde nicht gefasst. Raskol hat sich gestellt. Eines Tages stand er plötzlich am Empfang des Polizeipräsidiums und sagte, er wolle eine ganze Reihe von alten Überfällen gestehen. Es gab natürlich den größten Aufruhr. Keiner hat etwas verstanden, und Raskol selbst hat nie gesagt, warum er sich gestellt hat. Ehe die Sache verhandelt wurde, hat man mich angerufen und um ein Gutachten gebeten, ob er zurechnungsfähig ist und sein Zustand für ein Verfahren ausreicht. Raskol hat sich damals unter zwei Bedingungen bereit erklärt, mit mir zu sprechen. Dass wir eine Partie Schach spielen – frag mich nicht, woher er wusste, dass ich Schachspieler bin. Und dass ich ihm die französische Übersetzung des Buches ›Die Kunst des Krieges‹ besorge, eines uralten chinesischen Buches über Kriegstaktik.«
Aune öffnete eine Packung Nobel-Petit-Zigarillos.
»Ich bekam das Buch aus Paris geschickt und nahm ein Schachspiel mit. Dann wurde ich in seiner Zelle eingeschlossen und durfte einen Mann begrüßen, der am ehesten wie ein Mönch aussah. Er bat darum, sich meinen Stift ausleihen zu dürfen, begann im Buch zu blättern und gab mir mit dem Kopf ein Zeichen, dass ich das Schachspiel auspacken sollte. Ich stellte die Figuren auf und begann die Partie mit der Reti-Eröffnung — einem Beginn, mit dem man den Gegenspieler erst dann angreift, wenn die Zentrumspositionen eingenommen sind. Diese Eröffnung ist oft gerade gegen mittelmäßige Spieler effektiv. Es ist unmöglich, bereits nach dem ersten Zug zu erkennen, was der Gegner im Schilde führt, doch dieser Zigeuner blickt kurz vom Buch auf, fährt sich durch seinen Ziegenbart, sieht mich mit einem wissenden Lächeln an und notiert etwas im Buch …«
Ein silbernes Feuerzeug flammte am Ende des Zigarillos auf.
»… und liest weiter.
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