Die Fährte
Gefühlen, vor der Geburt von Hass und Barmherzigkeit. Die Kugel dringt in den Kopf ein, schneidet die Gedanken ab und dreht die Träume herum. Und im Innern der Welt des Kopfes zersplittert die letzte Reflexion, der Nervenimpuls des Schmerzzentrums, ein letztes, sich selbst widersprechendes SOS, ehe alles verstummt. Ich klicke auf den Titel des anderen Videos. Ich sehe aus dem Fenster, während der Computer arbeitet und seine Finger in der Internetnacht ausstreckt. Am Himmel sind Sterne, und ich denke, dass jeder einzelne von ihnen ein Beweis für die Unausweichlichkeit des Schicksals ist. Sie haben keinen Sinn, sie stehen über der menschlichen Sehnsucht nach Logik und Zusammenhang. Und deshalb sind sie so schön, denke ich.
Dann ist das andere Video bereit. Ich klicke auf Play. Play a play. Wie ein herumreisendes Theater, das immer die gleiche Vorstellung gibt, nur in einer anderen Stadt. Die gleichen Antworten und Bewegungen, das gleiche Kostüm, das gleiche Bühnenbild. Nur die Statisten sind ausgetauscht worden. Und die Schlussszene. Heute Abend wurde es keine Tragödie.
Ich bin mit mir selbst zufrieden. Ich bin zum Kern des Charakters, den ich spiele, vorgedrungen — der kalte, professionelle Antagonist, der genau weiß, was er will, und der tötet, wenn es sein muss. Niemand versucht, Zeit zu schinden, niemand wagt das mehr nach dem Bogstadvei. Und deshalb bin ich in diesen zwei Minuten Gott, hundertzwanzig Sekunden, die ich mir selbst gegeben habe. Und die Illusion funktioniert. Die dicken Kleider unter dem Overall, die doppelten Einlegesohlen, die gefärbten Kontaktlinsen und die eingeübten Bewegungen.
Ich beende die Verbindung und es wird dunkel im Raum. Einzig das ferne Rauschen der Stadt erreicht mich. Heute habe ich Prinz getroffen. Eine merkwürdige Person. Sie gibt mir das zwiespältige Gefühl eines Pluvianus aegyptius, dieses kleinen Vogels, der davon lebt, die Kiefer der Krokodile zu reinigen. Er sagte, alles sei unter Kontrolle, dass man im Raubdezernat keine Spuren gefunden habe. Er bekam seinen Anteil und ich die Judenpistole, die er mir versprochen hatte.
Vielleicht sollte ich mich freuen, aber nichts kann mich wieder heilen.
Danach rief ich aus einer Telefonzelle im Polizeipräsidium an, aber sie wollten nichts sagen, bis ich mich als Verwandter zu erkennen gab. Sie sagten, es sei Selbstmord, dass sich Anna erschossen hätte. Die Sache sei zu den Akten gelegt worden. Ich konnte gerade noch auflegen, ehe ich lachen musste.
Teil 2
Kapitel 12 – Freitod
»Albert Camus hat gesagt, dass Selbstmord das einzige wirkliche Problem der Philosophie sei«, sagte Aune und blickte schnüffelnd in den grauen Himmel über dem Bogstadvei. »Weil die Frage, ob das Leben wert ist, gelebt zu werden, die Grundfragen der Philosophie beantwortet. Alles andere – ob die Welt drei Dimensionen hat und der Geist neun oder zwölf Kategorien — kommt später.«
»Hm«, sagte Harry.
»Viele meiner Kollegen haben sich in ihrer Forschung mit der Frage auseinander gesetzt, warum sich Menschen das Leben nehmen. Weißt du, was sie als häufigste Ursache erkannt haben?«
»Solche Fragen wollte ich von dir beantwortet haben.« Harry musste im Slalom um die entgegenkommenden Menschen herumkurven, um mit dem runden Psychologen Schritt zu halten.
»Dass sie nicht mehr langer leben wollen«, sagte Aune.
»Hört sich an, als hatte sich da jemand den Nobelpreis verdient.« Harry hatte Aune am Abend zuvor angerufen und mit ihm ausgemacht, ihn um neun Uhr in seinem Büro in der Sporveisgata abzuholen. Sie gingen an der Nordea-Filiale vorbei, und Harry bemerkte, dass der grüne Mullcontainer noch immer auf der anderen Seite der Straße neben dem 7-Eleven stand.
»Wir vergessen oft, dass der Entschluss, Selbstmord zu begehen, häufig von rational denkenden und mental vollkommen gesunden Menschen gefasst wird, die nicht daran glauben, dass ihnen das Leben noch etwas zu bieten hat«, sagte Aune. »Alte Menschen, die ihren Partner verloren haben oder um deren Gesundheit es nicht mehr gut steht, zum Beispiel.«
»Diese Frau war jung und gesund. Welche rationalen Gründe kann sie gehabt haben?«
»Zuerst sollten wir mal definieren, was man mit rational meint. Wenn sich eine depressive Person entscheidet, den Schmerzen zu entfliehen, indem sie sich das Leben nimmt, sollte man davon ausgehen, dass die Betreffende das Für und Wider gut abgewägt hat. Auf der anderen Seite ist es
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