Die Fährte
alles mitnehmen, was ihr gehörte, die ganze Person auslöschen, verstehst du, was ich meine?«
»Ja. Hast du nicht irgendwo einen Laptop gesehen?«
»Laptop?«
»Ja, einen tragbaren Computer.«
»Wovon redest du?«
»Siehst du nicht das helle Viereck hier?« Harry deutete auf die Schreibtischplatte zwischen ihnen. »Sieht aus, als hätte hier ein Laptop gestanden, der jetzt verschwunden ist.«
»Meinst du?«
Harry spürte Halvorsens musternden Blick.
Draußen auf der Straße blieben sie stehen und sahen an der blassgelben Fassade zu ihren Fenstern empor. Harry rauchte eine zerknautschte Zigarette, die er lose in der Innentasche seines Mantels gefunden hatte.
»Das mit den Angehörigen ist merkwürdig«, sagte Halvorsen.
»Wieso?«
»Hat Møller dir nichts gesagt? Sie haben keine Adresse gefunden. Weder von Eltern noch von Geschwistern oder sonst irgendwem, mal abgesehen von einem Onkel, der im Gefängnis sitzt. Møller musste selbst das Beerdigungsinstitut anrufen, damit das arme Mädchen abgeholt wurde. Als wenn der Tod nicht schon einsam genug wäre.«
»Hm, welches Beerdigungsinstitut?«
»Sandemann«, sagte Halvorsen. »Der Onkel wollte, dass sie verbrannt wird.«
Harry zog an der Zigarette und sah zu, wie der Rauch im Himmel verschwand.
Halvorsen räusperte sich zweimal. »Woher wusstest du, dass sie die Schlüssel gerade bei dem Schlüsseldienst in der Vibes Gate in Auftrag gegeben hatte?«
Harry ließ die Zigarettenkippe auf den Boden fallen und schlug den Mantel enger um sich. »Sieht aus, als ob Aune Recht behalten würde«, sagte er. »Es gibt Regen. Wenn du direkt ins Präsidium fährst, komme ich gerne mit.«
»Es gibt sicher mindestens hundert Schlüsseldienste in Oslo, Harry.«
»Hm. Ich habe den stellvertretenden Hausverwalter angerufen. Knut Arne Ringnes. Netter Kerl. Sie arbeiten schon seit zwanzig Jahren mit diesem Schlüsseldienst zusammen. Fahren wir?«
»Gut, dass du da bist«, sagte Beate Lønn, als Harry ins House of Pain kam. »Ich habe gestern Abend etwas entdeckt. Sieh dir das mal an.« Sie spulte das Video zurück und drückte den Pausenknopf. Ein zitterndes Standbild von Stine Grettes Gesicht, das in die Augen des maskierten Täters blickte, erfüllte die Leinwand. »Ich habe ein Feld des Videobildes vergrößert. Ich wollte Stines Gesicht so groß wie möglich haben.«
»Warum?«, fragte Harry und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
»Achte mal auf das Zählwerk, das hier ist acht Sekunden, bevor der Exekutor schießt …«
»Exekutor?«
Sie lächelte verlegen. »Ich für mich habe damit angefangen, ihn so zu nennen. Mein Großvater hatte einen Bauernhof, und da … ja.«
»Wo?«
»In Valle im Setesdal.«
»Und da hast du Tiere gesehen, die geschlachtet wurden?«
»Ja.« Der Tonfall wehrte alle weiteren Fragen ab. Beate drückte die Slow-Taste und Stine Grettes Gesicht wurde lebendig. Harry sah, wie sie in Zeitlupe blinzelte, während sich ihre Lippen bewegten. Er begann sich schon vor dem Schuss zu grauen, als Beate plötzlich das Video stoppte.
»Hast du das gesehen?«, fragte sie gespannt.
Es dauerte ein paar Sekunden, ehe es Harry bewusst wurde.
»Sie hat gesprochen!«, sagte er. »Unmittelbar bevor sie erschossen wurde, hat sie noch etwas gesagt, aber auf der Aufnahme ist nichts.«
»Weil sie geflüstert hat.«
»Dass ich das nicht vorher bemerkt habe! Aber warum? Und was sagt sie?«
»Das werden wir hoffentlich bald wissen. Ich habe einen Spezialisten für Lippenlesen im Taubstummenzentrum erreicht. Er ist auf dem Weg hierher.«
»Gut.«
Beate sah auf die Uhr. Harry biss sich auf die Unterlippe, atmete ein und sagte leise: »Du, Beate …«
Er sah, wie sie erstarrte, als er sie beim Vornamen nannte. »Ich hatte eine Partnerin, die Ellen Gjelten hieß.«
»Ich weiß«, sagte sie schnell. »Sie wurde am Akerselva ermordet.«
»Ja. Wenn sie und ich mit einer Sache nicht weiterkamen, haben wir verschiedene Techniken angewendet, um Informationen zu aktivieren, die irgendwo im Unterbewusstsein hängen geblieben waren. Assoziationsspiele, bei denen wir Worte auf Zettel notierten und so etwas.«
Harry lächelte verlegen. »Das hört sich vielleicht seltsam an, aber hin und wieder hat uns das weiter gebracht. Deshalb dachte ich, dass wir vielleicht auch so etwas machen könnten.«
»Wenn du meinst.« Wieder bemerkte Harry, wie viel sicherer Beate wirkte, wenn sie sich auf ein Video oder einen PC-Bildschirm konzentrieren konnte. Jetzt sah sie
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