Die Fährte
ihn mit einem Blick an, als hätte er gerade eine Partie Strip-Poker vorgeschlagen.
»Ich will gerne wissen, was du fühlst , wenn du an diesen Fall denkst«, sagte er.
Sie lachte unsicher. »Fühlen, was soll ich schon fühlen?«
»Vergiss mal einen Moment die kalten Fakten.« Harry beugte sich im Stuhl vor. »Sei jetzt kein braves Mädchen. Was du sagst, muss nicht stimmen. Sag mir einfach, was dir dein Bauch zuflüstert.«
Sie starrte eine Weile auf die Tischplatte. Harry wartete. Dann blickte sie auf und sah ihm direkt in die Augen. »Ich glaube an eine 2.«
»Eine 2?«
»Auswärtssieg. Dass das da einer dieser fünfzig Prozent wird, den wir nicht aufklären.«
»Soso, und warum nicht?«
»Einfache Mathematik. Wenn du an all die Idioten denkst, die wir nicht kriegen, hat ein Mann wie der Exekutor, der sich reichlich Gedanken gemacht hat und einiges darüber weiß, wie wir arbeiten, relativ gute Karten.«
»Hm.« Harry rieb sich das Gesicht. »Dein Bauch beschäftigt sich also bloß mit Kopfrechnen?«
»Nicht nur. Da ist etwas an der Art, wie er vorgeht. So entschieden, so … so, als ob er von etwas getrieben würde …«
»Was treibt ihn an, Beate? Geldgier?«
»Ich weiß es nicht. Statistisch gesehen ist die Geldgier das Motiv Nummer eins, die Spannung Motiv Nummer zwei …«
»Vergiss die Statistik, Beate. Jetzt ermittelst du, du analysierst jetzt nicht bloß Videobilder, sondern auch deine eigenen unbewussten Deutungen von allem, was du gesehen hast. Glaub mir, das ist das Wichtigste, an das man sich bei den Ermittlungen halten muss.«
Beate sah ihn an. Harry wusste, dass er im Begriff war, sie aus der Reserve zu locken. »Los!«, feuerte er sie an. »Was treibt den Exekutor an?«
»Gefühle.«
»Was für Gefühle?«
»Starke Gefühle.«
»Was für Gefühle, Beate?«
Sie schloss die Augen. »Liebe oder Hass. Hass. Nein, Liebe. Ich weiß es nicht.«
»Warum erschießt er sie?«
»Weil er … Nein.«
»Los. Warum erschießt er sie?« Harry hatte seinen Stuhl Stückchen für Stückchen näher an sie herangeschoben.
»Weil er muss. Weil er das schon vorher … entschieden hatte.«
»Gut. Warum hatte er das schon vorher entschieden?«
Es klopfte an der Tür.
Harry hätte nichts dagegen gehabt, wenn Fritz Bjelke nicht gar so schnell durchs Zentrum geradelt wäre, um ihnen beizustehen. Doch jetzt stand er in der Tür. Ein freundlicher, runder Mann mit runder Brille und rosa Fahrradhelm. Bjelke war nicht taub und definitiv nicht stumm. Damit Bjelke möglichst viel über die Lippenbewegungen von Stine Grette erfuhr, spielte Beate zuerst den Teil des Videos, in dem sie hören konnten, was sie sagte. Während das Band lief, redete Bjelke selbst ohne Unterlass.
»Ich bin Spezialist, aber eigentlich sind wir alle Lippenleser, auch wenn wir hören, was der Sprecher sagt. Deshalb ist es auch unangenehm, wenn ein Film nicht gut synchronisiert ist, obgleich es da in der Regel nur um Hundertstelsekunden geht.«
»Tja«, sagte Harry. »Ich persönlich kann nichts aus ihren Lippenbewegungen lesen.«
»Das Problem ist, dass sich nur etwa 30 bis 40 Prozent der Worte direkt von den Lippen ablesen lassen. Um den Rest zu verstehen, muss man den Gesichtsausdruck und die Körpersprache berücksichtigen und seine eigene Logik und sein Sprachgefühl einsetzen, um die fehlenden Worte zu finden. Denken ist also genauso wichtig wie Sehen.«
»Jetzt beginnt sie zu flüstern«, sagte Beate.
Bjelke hielt abrupt den Mund und folgte tief konzentriert den minimalen Lippenbewegungen auf der Leinwand. Beate hielt die Videoaufzeichnung an, ehe der Schuss fiel.
»Ah ja«, sagte Bjelke. »Noch einmal bitte.«
Und danach: »Noch einmal.«
Dann: »Bitte noch einmal.«
Nach sieben Durchgängen nickte er. Er hatte genug gesehen.
»Ich verstehe nicht, was sie meint«, sagte Bjelke. Harry und Beate sahen sich an. »Aber ich glaube zu wissen, was sie sagt.«
Beate hastete über den Flur, um mit Harry Schritt zu halten.
»Er gilt als der beste Experte des Landes«, sagte sie.
»Das hilft uns auch nicht«, sagte Harry. »Er hat selbst gesagt, dass er sich nicht sicher ist.«
»Aber was, wenn sie wirklich das sagte, was Bjelke meint?«
»Das hat keinen Sinn. Er muss ein ›nicht‹ übersehen haben.«
»Das glaube ich nicht.«
Harry blieb abrupt stehen und Beate wäre fast in ihn hineingelaufen. Mit verschrecktem Blick starrte sie in seine weit aufgerissenen Augen.
»Gut«, sagte er.
Beate sah verwirrt aus.
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