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Die Fährte

Die Fährte

Titel: Die Fährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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dass du jetzt diesen Tobben anrufst und dir die Erlaubnis holst, mir dieses Band auszuhändigen, dann werde ich dich auch nicht länger aufhalten.«
    »Sieh dich doch mal um«, sagte er, wobei seine Pickel noch röter wurden. »Ich hab jetzt keine Zeit, nach irgendwelchen Videos zu suchen.«
    »Oh«, sagte Harry, ohne sich umzusehen. »Lieber nach Ladenschluss?«
    »Wir haben rund um die Uhr auf«, sagte der Junge und verdrehte die Augen.
    »Das war ein Witz«, sagte Harry.
    »Ja, ja«, sagte der Junge mit seiner Schlafwandlerstimme. »Willste sonst noch was kaufen?«
    Harry schüttelte den Kopf und der Junge sah an ihm vorbei. »Der Nächste?«
    Harry seufzte und drehte sich zu den Wartenden um, die auf den Tresen zustürmten. »Nichts da, kein Nächster bitte! Ich bin von der Polizei.« Er hielt seine Marke hoch. »Und dieser Mann ist verhaftet, weil er nicht richtig ›kaufen‹ sagen kann.«
    Harry war, wie gesagt, in manchen Punkten kleinlich. Doch in diesem Moment war er mit seiner Reaktion zufrieden. Er wurde gerne angelächelt.
    Doch nicht mit dem Lächeln, das Teil der Berufsausbildung von Pfarrern, Politikern oder Bestattern zu sein scheint. Die lächeln beim Reden mit den Augen, was Herrn Sandemann vom Beerdigungsinstitut Sandemann eine Inbrunst verlieh, die, in Verbindung mit der Temperatur in der Kapelle unter der Kirche von Majorstua, Harry schaudern ließ. Er sah sich um. Zwei Särge, ein Stuhl, ein Kranz, ein Bestatter, ein schwarzer Anzug und ein Seitenscheitel.
    »Sie sieht so schön aus«, sagte Sandemann. »So friedlich, so voller Ruhe und Würde. Sie gehören sicher zur Familie?«
    »Nicht ganz.« Harry zeigte seine Polizei-Marke in der Hoffnung, das salbungsvolle Auftreten sei für Angehörige reserviert. Das war es nicht.
    »So tragisch, dass ein junger Mensch auf diese Art und Weise von uns geht«, sagte Sandemann lächelnd, während er seine Handflächen gegeneinander drückte. Die Finger des Bestatters waren ungewöhnlich dünn und krumm.
    »Ich würde mir gerne noch einmal die Kleider ansehen, die die Tote trug, als sie gefunden wurde«, sagte Harry. »In Ihrem Büro sagten sie mir, Sie hätten sie mit hierher genommen.«
    Sandemann nickte, holte eine weiße Plastiktüte und erklärte ihm, dass er sie mitgenommen habe, um sie weitergeben zu können, falls Eltern oder Geschwister auftauchten. Harry suchte in dem schwarzen Kleid vergeblich nach Taschen.
    »Suchen Sie nach etwas Speziellem?«, fragte Sandemann in einem unschuldigen Tonfall, während er sich über Harrys Schulter beugte.
    »Einen Haustürschlüssel«, erwiderte Harry. »Sie haben wohl nichts gefunden, als Sie …«, er starrte auf Sandemanns krumme Finger, »… sie ausgezogen haben.«
    Sandemann schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Unter ihren Kleidern war nur sie selbst. Abgesehen von dem Bild im Schuh natürlich.«
    »Ein Bild?«
    »Ja. Merkwürdig, nicht wahr? Sicher so ein Brauch von denen. Es liegt noch immer in ihrem Schuh.«
    Harry nahm einen schwarzen, hochhackigen Schuh aus der Tüte und sah sie plötzlich kurz vor sich in der Türöffnung stehen, als er kam: schwarzes Kleid, schwarze Schuhe, roter Mund. Sehr roter Mund.
    Das zerknitterte Bild zeigte eine Frau mit drei Kindern an einem Badestrand. Es sah aus wie ein Ferienfoto irgendwo in Norwegen, mit glatten Schären und Kiefern auf dem Hügel im Hintergrund.
    »War jemand von der Familie hier?«, fragte Harry.
    »Nur ihr Onkel. Natürlich in Begleitung eines Ihrer Kollegen.«
    »Natürlich?«
    »Ja, soweit ich weiß, sitzt er eine Strafe ab.«
    Harry antwortete nicht. Sandemann lehnte sich nach vorn und krümmte seinen Rücken, so dass sein kleiner Kopf zwischen die Schultern sackte und ihn wie einen Geier aussehen ließ: »Was das wohl für eine Strafe ist?« Auch die flüsternde Stimme klang wie der heisere Schrei eines Vogels. »Wenn er nicht einmal der Beerdigung beiwohnen darf, meine ich.«
    Harry räusperte sich. »Darf ich sie mir ansehen?«
    Sandemann sah enttäuscht aus, machte aber rasch eine einladende Geste in Richtung eines der Särge.
    Wie gewöhnlich war Harry überrascht, wie sehr man eine Leiche durch professionelle Arbeit verschönern konnte. Anna sah wirklich friedlich aus. Er berührte ihre Stirn. Sie war wie Marmor.
    »Was ist das für eine Halskette?«, fragte Harry.
    »Goldmünzen«, sagte Sandemann. »Ihr Onkel hat die mitgebracht.«
    »Und was ist das?« Harry hob ein Bündel Papiere hoch, die mit einer breiten Banderole

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