Die Fährte
Eis. Warum hatte er das getan? Warum hatte er in dieser Kamikazenianier versucht, einen Mann zu demütigen, den er noch nicht einmal kannte? Nur um selbst mit Samthandschuhen emporgehoben und sanft durch die Tür befördert zu werden?
Er wandte sein Gesicht zur Sonne, schloss die Augen und dachte, dass er an diesem Tag vielleicht zur Abwechslung einmal etwas Sinnvolles tun könnte. Wie das Ganze ruhen zu lassen. Denn auch wenn nichts zusammenpasste, das alles war bloß das ganz normale Chaos und die Unverständlichkeit der Dinge. Das Glockenspiel am Rathaus begann.
Harry wusste noch nicht, dass Møller Recht bekommen sollte, es war der letzte warme Tag des Jahres.
Kapitel 16 – Namco G-Con 45
Mutiger Oleg.
»Es geht sicher gut«, hatte er am Telefon gesagt. Jedes Mal, als hätte er einen heimlichen Plan. »Mama und ich kommen bald zurück.«
Harry stand am Wohnzimmerfenster und blickte in den Himmel über dem Dach des Nachbarhauses. Die Abendsonne färbte die Unterseite der dünnen Wolkenschicht rotorange. Auf dem Weg nach Hause war die Temperatur plötzlich und unerklärlich rapide gesunken, als hätte jemand eine unsichtbare Tür geöffnet, durch die die gesamte Wärme entwichen war. Auch in der Wohnung kroch die Kälte zwischen den Bodendielen empor. Wo hatte er nur die Filzpantoffeln? Im Kellerverschlag oder auf dem Dachboden? Hatte er Filzpantoffeln? Er erinnerte sich an nichts mehr. Zum Glück hatte er den Namen dieser Sachen für die Playstation, die er Oleg versprochen hatte, wenn er Harrys Tetris-Rekord im Gameboy brach, auf einem Zettel notiert. Namco G-Con 45.
Hinter ihm surrten die Nachrichten über den 14-Zoll-Bildschirm. Eine neue Artistengala für die Hinterbliebenen der Opfer. Julia Roberts zeigte ihr Mitgefühl und Sylvester Stallone nahm die Anrufe der Spender entgegen. Und die Stunde der Vergeltung war gekommen. Die Bilder zeigten Gebirgsflanken, die unter Dauerbeschuss lagen. Schwarze Rauchsäulen aus Stein in einer kargen, vegetationslosen Landschaft. Das Telefon klingelte.
Es war Weber. Im Präsidium hieß es, Weber sei ein starrköpfiger Griesgram, mit dem man nur schwer arbeiten konnte. Harry war vollkommen anderer Meinung. Man musste sich nur bewusst sein, dass er schnell dichtmachte, wenn man unbedacht vorging oder ihn unter Druck setzte.
»Ich weiß, dass du auf eine Nachricht wartest«, sagte Weber. »Wir haben auf der Flasche nichts gefunden, was für einen DNA-Test reichen würde, aber ein paar gute Fingerabdrücke.«
»Gut. Ich hatte schon Sorge, die könnten verwischt worden sein, obgleich die Flasche ja in einer Tüte war.«
»Zum Glück war es eine Glasflasche. Auf einer Plastikflasche wäre das Fett nach so vielen Tagen aufgesogen worden.«
Harry konnte das Klick-Klack des Brutschranks im Hintergrund hören. »Bist du noch in der Arbeit, Weber?«
»Ja.«
»Wann könnt ihr die Fingerabdrücke mit der Datenbank abgleichen?«
»Willst du mich unter Druck setzen?«, brummte der alte Beamte misstrauisch.
»Aber nein, ich habe alle Zeit der Welt, Weber.«
»Morgen. Ich kenn mich mit diesen Computersachen nicht so gut aus und die jungen Kerle sind alle schon nach Hause gegangen.«
»Und du?«
»Ich werd die Abdrücke noch auf die herkömmliche Weise mit ein paar unserer Stammkunden vergleichen. Schlaf gut, Hole, der Onkel von der Polizei passt auf.«
Harry legte auf, ging ins Schlafzimmer und schaltete den PC ein. Das optimistische Microsoftdingdong übertönte für einen Moment die amerikanische Vergeltungsrhetorik im Wohnzimmer. Er klickte sich bis zum Video des Überfalls im Kirkevei. Ließ den abgehackten Filmstreifen wieder und wieder laufen, ohne dadurch klüger oder dümmer zu werden. Dann klickte er auf das E-Mail-Symbol. Die Sanduhr und die Meldung »Nachricht 1 von 1 wird abgerufen« erschien auf dem Bildschirm. Da klingelte das Telefon erneut. Harry warf einen Blick auf die Uhr, ehe er den Hörer abnahm und sich mit der weichen Stimme meldete, die für Rakel reserviert war: »Hi.«
»Arne Albu. Entschuldigen Sie, dass ich Sie so spät noch privat anrufe, aber meine Frau hat mir Ihren Namen gegeben, und ich möchte die Sache am liebsten sofort aus der Welt schaffen. Passt es Ihnen?«
»Geht schon in Ordnung«, sagte Harry etwas verlegen mit seiner normalen Stimme.
»Ich habe also mit meiner Frau gesprochen, und keiner von uns kennt diese Frau oder hat eine Ahnung, wie sie in den Besitz dieses Bildes gekommen sein kann. Aber das Bild
Weitere Kostenlose Bücher