Die Fährte
Lev lehnte ab, weil er sie zu schlecht fand. Lev war so ein Mensch, der alles hinkriegt. Er hätte die Schule im Handumdrehen geschafft, wenn er nicht so viel geschwänzt und seine Hausaufgaben gemacht hätte.« Trond verzog seinen Mund zu einem schiefen Lächeln. »Er bezahlte mich mit geklauten Süßigkeiten, damit ich seine Handschrift lernte, so dass ich die Aufsätze für ihn schreiben konnte. Das rettete auf jeden Fall seine Norwegischnoten.« Trond lachte, wurde dann aber plötzlich wieder ernst. »Dann wurde er das Gitarrespielen leid und begann mit einer Gruppe Jungs aus Årvoll herumzuziehen. Lev fand es nie so schlimm, die Sachen aufzugeben, die er hatte. Es gab für ihn immer etwas anderes, Besseres, Spannenderes, das hinter der nächsten Wegbiegung auf ihn wartete.«
»Es ist vielleicht blöd, einen Bruder so was zu fragen«, meinte Harry, »aber glauben Sie, dass Sie ihn gut kennen?«
Trond dachte nach. »Nein, das ist keine dumme Frage. Ja, wir sind zusammen aufgewachsen. Und, ja, Lev war extrovertiert und lustig und alle – Jungs wie Mädchen – wollten ihn gern kennen lernen. Doch eigentlich war Lev ein einsamer Wolf. Einmal hat er zu mir gesagt, dass er im Grunde nie richtige Freunde gehabt habe, bloß Liebschaften und Fans. Es gab so viel, was ich an Lev nicht verstanden habe. Wie zum Beispiel, wenn die Gausten-Brüder kamen und Stunk wollten. Sie waren zu dritt und alle waren älter als Lev. Die anderen Jungs und ich hier im Viertel sind sofort abgehauen, wenn wir sie gesehen haben. Aber Lev blieb stehen. Fünf Jahre lang ließ er sich von ihnen verprügeln. Doch an einem Tag kam der Älteste von ihnen – Roger – alleine. Wir sind wie üblich abgehauen. Doch als ich wieder um die Hausecke guckte, sah ich Roger am Boden liegen und Lev auf ihm hocken. Lev hielt Rogers Arme mit den Beinen fest und hatte einen Stab in der Hand. Ich ging näher, um besser sehen zu können. Abgesehen von dem schweren Atmen gab keiner von beiden einen Laut von sich. Erst da entdeckte ich, dass Lev Roger den Stab ins Auge gestoßen hatte.«
Beate rutschte auf ihrem Stuhl herum.
»Lev war voll konzentriert, als tue er etwas, was seiner ganzen Aufmerksamkeit und Vorsicht bedurfte. Es sah aus, als versuche er, den Augapfel herauszuwippen. Und Roger heulte Blut, es rann aus seinem Auge ins Ohr und tropfte vom Ohrläppchen auf den Asphalt. Es war so still, dass man das Blut auf die Straße tropfen hörte. Tropf, tropf.«
»Was haben Sie gemacht?«, fragte Beate.
»Ich musste kotzen. Ich konnte noch nie Blut sehen, davon wird mir schwindelig und schlecht.« Trond schüttelte den Kopf. »Lev ließ Roger los und nahm mich mit nach Hause. Rogers Auge konnte gerettet werden und wir haben die Gausten-Brüder danach nie wieder in unserem Viertel gesehen. Aber den Anblick von Lev mit diesem Stab habe ich nie vergessen können. In diesen Augenblicken dachte ich immer, dass mein großer Bruder manchmal ein anderer war, jemand, den ich nicht kannte und der hin und wieder unerwartet zu Besuch kam. Leider wurden diese Art Besuche später häufiger.«
»Sie sagten, er habe irgendwann versucht, einen Mann zu töten?«
»Das war an einem Sonntagmorgen. Lev nahm einen Schraubenzieher und einen Bleistift mit und fuhr mit dem Fahrrad über die Fußgängerbrücke an der Ringstraße. Sie sind doch auch schon einmal über die Übergänge gegangen, nicht wahr? Das ist ein bisschen unangenehm, wenn man über diese quadratischen Stahlwaben geht und sieben Meter unter sich die Straße sieht. Es war, wie gesagt, an einem Sonntagmorgen, so dass wenig Menschen unterwegs waren. Er löste die Schrauben an einer Metallwabe und ließ nur zwei Schrauben stehen und schob auf der anderen Seite den Bleistift darunter, so dass die Wabe darauf ruhte. Dann wartete er. Zuerst kam eine Frau, die, wie Lev meinte, frisch durchgefickt aussah. Rausgeputzt, aber mit zerzausten Haaren und laut fluchend, sei sie mit abgebrochenen Stilettes über die Brücke stolziert.« Trond lachte leise. »Lev hatte für einen Fünfzehnjährigen schon einiges mitbekommen.« Er führte die Tasse an den Mund und sah verwundert durch das Küchenfenster auf den Müllwagen, der hinter der Wäschespinne vor den Mülltonnen hielt. »Ist heute Montag?«
»Nein«, sagte Harry, der seine Tasse noch nicht angerührt hatte. »Wie ist es dem Mädchen ergangen?«
»Das sind zwei Reihen Metallwaben. Sie ging über die linke Reihe. Pech nannte Lev das später. Er hätte sie dem alten Mann
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